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Olsberg, Karl:
Boy in a White Room
Bindlach: Loewe 2017
288 Seiten
€ 14,95
Jugendbuch ab 14 Jahren

Olsberg, Karl: Boy in a White Room

Wie spannend ein weißes Zimmer sein kann…

von Thomas Fischer (2018)

Ein fünfzehnjähriger Junge erwacht in einem weißen kahlen Raum. Er weist alle kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten seines Alters auf, hat jedoch keinerlei persönliche Erinnerungen. Durch eine Computerstimme namens Alice erschließt sich nach und nach seine Situation: Er soll Manuel heißen und nach einem Überfall gelähmt sein. Sein Aufenthaltsort ist eine virtuelle Welt, die sein reicher Vater mit sehr großem digitalen Aufwand für ihn erschaffen hat. Doch anstatt sich wie geplant in die Welt des Herrn der Ringe versetzen zu lassen, will der (buchstäblich) aufgeweckte Junge die Wahrheit über seinen Zustand erfahren: Denn nichts ist, wie es scheint. Bei der Aufklärung seiner vertrackten Lage hilft ihm aber nicht nur die Kenntnis von Tolkiens Werken, sondern auch Hinweise aus Alice im Wunderland spielen eine große Rolle. Nachdem Manuels Körper von einem konkurrierenden Internet-Unternehmer geraubt worden ist, findet er in dessen Familie scheinbar Ruhe – doch auch diese Episode erweist sich als digitale Illusion. Nachdem er einen weiteren Identitätswechsel hinter sich hat, mündet seine Existenz in der Erkenntnis des Philosophen René Descartes: Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich! Es ist somit das Denken, das ihn zum Menschen macht, sei es nun aus Fleisch und Blut oder in Form von Bits und Bytes…

Der Roman besteht aus einer geschickt konstruierten Abfolge äußerst spannender Situationen: Rasante Verfolgungsjagden im automatisch gesteuerten Auto fehlen ebenso wenig wie Schießereien, Belagerungen und eine geheimnisvolle Frau in Weiß, deren Identität bis zum Schluss ungeklärt bleibt. Dass die Hauptfigur, aus deren Perspektive konsequent in Ich-Form erzählt wird, sich dabei keinen Millimeter bewegt, macht die Sache keineswegs weniger aufregend. Das Prinzip des „unzuverlässigen Erzählers“ lässt die Leserinnen und Leser bewusst im Unklaren, ob Manuels Handlungen „echt“ oder virtuell sind – und bestätigt so Descartes‘ Prinzip.

Der zunächst überkonstruiert wirkende Plot rechtfertigt sich durch die philosophische Tiefe, mit der hier das Problem der personalen Identität abgehandelt wird: Die aktuelle Diskussion, ob Maschinen eigenständige Intelligenz entwickeln können und eines Tages den Menschen ersetzen werden (etwa in Yuval Noah Hararis „Homo Deus“), wird hier virtuos mit einer kurzweiligen Actionhandlung verbunden. Das Kultwerk der Gattung, die Filmreihe Matrix, schimmert natürlich immer hindurch, aber der Autor Karl Olsberg, Pseudonym eines Hamburger Adligen und Unternehmers, versteht sein Handwerk und legt ein tieferschürfendes Werk vor als etwa das vergleichsweise oberflächliche „God jr.“ von Dennis Cooper oder Lois Lowrys „Hüter der Erinnerung“ Ein Schwachpunkt ist lediglich das völlige Fehlen einer Liebesgeschichte: Einen Fünfzehnjährigen, der sich nicht für Sex interessiert, gibt es nicht – auch nicht in einer noch so virtuellen Welt!

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