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Patrick Ness

Patrick Ness

Patrick Ness, 1971 in Alexandria im US-Bundesstaat Virginia geboren, wuchs auf Hawaii und im Bundesstaat Washington auf. Er studierte Englische Literatur an der renommierten University of Southern California in Los Angeles. Seit 1999 lebt er in London, unterrichtet dort Kreatives Schreiben und ist als Literaturkritiker für die Tageszeitung The Guardian tätig. Für seine Kinder- und Jugendbücher wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Costa Children's Book Award (früher: Whitbread Book Award). Sein Buch A Monster Calls (dt. u. d. T. Sieben Minuten nach Mitternacht) gewann in diesem Jahr die seit 1936 vergebene Carnegie Medal und die Kate Greenaway Medal für die besten Illustrationen (von Jim Kay) – es war das erste Mal überhaupt, dass die beiden zusammengehörenden Preise für ein Werk verliehen wurden.

In Deutschland wurde Patrick Ness zunächst mit New World bekannt, einer Science-Fiction-Reihe für Jugendliche (Bd. 1-3, Ravensburger 2009/10; Originaltitel: Chaos Walking). In Sieben Minuten nach Mitternacht – 2011 bei cbj (Random House) erschienen – schrieb Patrick Ness eine Idee seiner bekannten Schriftstellerkollegin Siobhan Dowd weiter. Ihr früher, tragischer Krebstod verhinderte die Umsetzung ihrer Idee in eine eigene Geschichte.

1. Ihr aktueller Kinderroman Sieben Minuten nach Mitternacht wurde gleich zweifach für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert: in der Kategorie „Kinderbuch“ und in der Kategorie „Preis der Jugendjury“. Kritiker – oder jugendliche Leser(innen): Wessen Urteil ist Ihnen wichtiger und welches fürchten Sie mehr?

Das wichtigste Urteil für mich ist tatsächlich mein eigenes. Das hört sich vielleicht merkwürdig an, aber ich arbeite an einem Buch über einen so langen Zeitraum alleine – an jeder Seite, jedem Satz, jedem Wort. Schließlich kommt dann ein Punkt, an dem es sich anfühlt, als wäre es fertig. Damit meine ich aber nicht, dass es fehlerlos ist – trotzdem habe ich alles getan, was ich tun konnte. Das ist ein ganz entscheidender Punkt für mich: der Moment, in dem ich fühle, dass ich ein Buch beendet habe. Erst danach stellt sich die Frage, wie die Leute reagieren. Es ist interessant – aber es ist nicht das Wichtigste. Vielleicht ist es ähnlich, wenn man sein Kind auf ein College schickt: Man hat alles getan, um es großzuziehen, man hat sein Bestes gegeben und auch Fehler gemacht. Aber wenn es dann in die Welt zieht, bleibt einem nichts anderes übrig, als es für das zu lieben, was es ist.

Natürlich bin ich sehr neugierig zu hören, was meine Leser(innen) denken. Ich habe in Großbritannien den Red House Award gewonnen, einen Preis, der komplett von Kindern vergeben wird. Als Sieben Minuten nach Mitternacht zuerst in Großbritannien erschien, hat es eine Diskussion gegeben, ob das Buch überhaupt für Kinder geeignet sei. Ich war immer davon überzeugt, doch als ich dann diesen Preis gewann, habe ich mich besonders gefreut, weil die Preisentscheidung zeigte, dass ich richtig gelegen hatte.

Sprechen wir über Ihre Preise: Ihr Buch hat eine ganze Reihe von Preisen erhalten und war für die verschiedensten Auszeichnungen nominiert. Wir freuen uns, Ihnen hier einen weiteren Preis zu überreichen: Die Les(e)bar-Redaktion wählte im Wintersemester 2011/12 Sieben Minuten nach Mitternacht zum „Buch des Semesters“. Herzlichen Glückwunsch!

Vielen, vielen Dank. Das ist wundervoll!

2. Wie wichtig sind Ihnen solche Auszeichnungen?

Es ist schön, sie zu erhalten! Es wäre falsch, dumm und auch arrogant zu sagen, es wäre anders. Wofür solche Preise aber wirklich gut sind, ist, dass sie bewirken, dass das Buch von noch mehr Menschen gelesen wird – und das ist ein wirkliches Privileg! Dafür sind Preise wirklich hilfreich.

3. Es ist nicht das erste Mal, dass Sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sind Sie inzwischen daran gewöhnt oder nervt es Sie und hält Sie vom Schreiben ab? Oder genießen Sie die Aufmerksamkeit vielleicht sogar?

Sogar sehr berühmte Autoren sind ja nicht wirklich berühmt … Aber ich liebe es, zu Festivals zu gehen und mit den Leser(inne)n zu sprechen. Natürlich muss man auch vorsichtig sein, denn die Aufmerksamkeit kann einem schon in die Quere geraten, gerade weil sie viel Zeit beansprucht. Aber wenn man diese Dinge nicht mag – warum sollte man dann Bücher schreiben? Wenn man es nicht mag, Leser zu treffen oder deren Fanmails zu beantworten? Menschen schreiben normalerweise keine Briefe mehr, und doch bekomme ich gelegentlich Briefe von jugendlichen Leser(inne)n. Wieso sollte ich das nicht mögen? Es ist wunderbar, wenn sich jemand so viel Zeit nimmt. Aber ich denke trotzdem nicht, dass ich wirklich berühmt bin – ich möchte es eigentlich auch gar nicht sein. Ich will mich aber auch nicht beklagen: So ist es sehr angenehm.

4. Sieben Minuten nach Mitternacht basiert auf einer Idee der 2007 verstorbenen Siobhan Dowd. Wie kam die Geschichte zu Ihnen?

Siobhan starb 2007. Mein erstes Buch für Jugendliche wurde im Jahr 2008 veröffentlicht. Ich hatte Siobhan niemals getroffen, aber wir hatten den gleichen Herausgeber. Die Idee, das Buch weiterzuschreiben, kam von ihm. Ich glaube, in der Zeit nach Ihrem Tod hatte er ein paar Autoren gefragt, ob sie es machen würden. Doch sie hatten gezögert, weil sie sie zu gut gekannt hatten. Man entschied sich abzuwarten. Nachdem dann Siobhans Bücher, die sie vor ihrem Tod geschrieben hatte, nach und nach alle erschienen waren, fragte mein Herausgeber dann mich. Es lag nicht auf der Hand, mich zu nehmen, weil unsere Bücher zunächst sehr unterschiedlich scheinen: Meine Trilogie ist sehr futuristisch, ihre Bücher sind dagegen sehr realistisch. Aber ich denke trotzdem, dass wir viel gemeinsam haben. Wir wollen beide Teenager und deren Gefühle ernst nehmen. Ich finde auch, dass wir beide sehr emotionale Autoren sind. Wir wollen unsere Leser(innen) dazu bringen, etwas zu fühlen.

Mein Herausgeber fragte mich also, ob ich es machen würde … und ich lehnte ab. Ich denke nämlich nicht, dass aus einer solchen Verpflichtung heraus gute Bücher geschrieben werden. Man schreibt eine Hommage, aber keine Geschichte, es ist ein Denkmal – aber keine gute Geschichte. Dann wiederum war es so eine gute Idee, die sie gehabt hatte. So eine gute Idee! Ich dachte darüber nach – und sagte: „Wenn ich das mache, dann muss ich absolute Freiheit haben. Ich muss schreiben dürfen, was auch immer ich will.“ Ich wusste, dass es sonst kein gutes Buch werden würde. Als man mir diese Freiheit dann zusicherte, nahm ich das Angebot an.

5. Wie war es für Sie, eine 'fremde' Geschichte zu schreiben? War das nicht auch sehr einschränkend?

Nun, ich hatte bloß einen Anfang, keine ganze Geschichte. Ich weiß auch nicht, ob ich es hätte machen können, wenn sie die ganze Geschichte schon fertig gedacht hätte. Siobhan lieferte Conor und seine Mutter, Lilly und die Idee von einem Monster. Auch die Idee von den drei verschiedenen Geschichten ist von ihr. Dies waren aber alles nicht wirklich ausgeführte Gedanken – es gab noch reichlich Freiraum.

6. Was ist dann gänzlich von Ihnen?

Auf diese Frage gibt es keine wirkliche Antwort. Irgendwie bin ich auf jeder Seite – und sie ist es ebenso. Ein Buch ist ein Kuchen: Man kann keinen Kuchen für jemanden weiterbacken. Sie schuf das Fundament – wir sind beide überall in dem Buch.

7. Zu den Illustrierungen: Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Jim Kay? Er war ja vorher eher unbekannt.

Jim Kay hatte ein paar Buchcover für meinen Verleger gemacht. Er hatte aber immer als Künstler gearbeitet und noch kein ganzes Buch illustriert und hatte in diesem Bereich nicht so viel Erfahrung. Als das Buch dann fertig war und ich mit den Herausgebern über verschiedene Illustratoren sprach, zeigte man mir auch ein sehr großes Poster mit Zeichnungen von Jim – und sie waren erstaunlich. Ich besuchte dann seine Seite im Internet und fand dort zwei Illustrationen, von denen ich dachte, sie passten perfekt: eine von Krähen vor weißem Schnee und die andere von Strommasten, die er als sich bewegende Monster stampfend dargestellt hatte. Ich wusste: „Das ist es!“ Wir gaben ihm das Buch und fragten ihn, ob er probeweise eine Zeichnung anfertigen würde – und so entstand dann schon die erste Illustration für Sieben Minuten nach Mitternacht.

8. Und wie verlief dann die Zusammenarbeit?

Wir besprachen uns niemals direkt – bis die Illustrationen fertig waren. Wir kommunizierten über den Art Director des Verlags. Verleger mögen es nicht, wenn Autoren mit Illustratoren reden. Ich sagte, dass ich Illustrationen liebe, die über mehrere Seiten verlaufen, und das gefiel auch dem Art Director gut.
Eine der Zeichnungen ist sogar neun Seiten lang – eine einzige, fortlaufende Zeichnung! Es ist erstaunlich, wie gut das alles zusammenpasst und wie gut es auch funktioniert. Jede einzelne Illustration ist genau richtig platziert – immer genau am richtigen Satz, das ganze Buch hindurch. Das war mir sehr wichtig. Die Bilder müssen einfach an den richtigen Stellen auftauchen. Das ist viel schwieriger zu machen, als man meinen würde. In der englischen Fassung funktioniert es sehr gut. Aber auch in der deutschen Fassung kommt es so gut hin – und das, obwohl die Satzlänge im Deutschen sehr anders ist als im Englischen. Es war ein sehr guter Arbeitsprozess.

9. Können Sie uns von ihren nächsten Projekten erzählen?

Nein! Ich schreibe gerade – aber ich halte es geheim, weil das Projekt noch Schutz braucht. Die Ideen, die man für eine Geschichte im Kopf hat, unterscheiden sich immer von dem, was dann am Ende auf dem Blatt steht. Ich möchte diese Freiheit gerne so lange wie möglich behalten. Solange niemand liest, was ich gerade schreibe, kann ich schreiben wie ich will, und ich kann auch Fehler machen und mich vielleicht sogar in eine komplett 'falsche' Richtung bewegen. Wenn ich dann herausfinde, wie es 'richtig' ist, kann ich so tun, als sei das niemals passiert. Ich mag es, wenn ich meine Ideen für mich behalten und alles so flexibel gestalten kann, wie ich das möchte – und das bis zum wirklich allerletzten Moment. So schreibe ich einfach am besten, und damit will ich nicht beanspruchen, dass dies der einzige Weg ist – es ist einfach so, wie ich es mache. Ich kenne auch andere Autoren, die ihre Geschichte schon im Schreibprozess erzählen. Das würde bei mir nicht funktionieren.

10. Und worum geht es?

Kinder fragen mich oft, woher ich die Ideen nehme. Die Antwort auf diese Frage ist: von überall. Das ist vielleicht keine wirklich hilfreiche Antwort, aber es ist so. Ich habe eine Idee, und manchmal ist es auch nur ein Bild. In diesem Buch hatte ich zum Beispiel eine Vorstellung von Conor, wie er aus einem Traum erwacht und feststellt, dass er das Wohnzimmer verwüstet hat. Ich wusste zwar nicht, wie ich dorthin kommen würde, ich aber ich hatte ein gutes, starkes Gefühl bei dieser Szene. Ich wusste, dass das richtig war. So führt eine Idee zur nächsten – und am Ende bleiben die richtigen Dinge zusammen und man hat ein Buch. Es ist wichtig, offen zu bleiben.

 

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Nana Wallraff.
Übersetzung und Bearbeitung: Johanna Wolff Metternich und Nana Wallraff