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Titelbild
Jan Simoen:
Mamas Liebling
Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
Ravensburg: Ravensburger 2010
128 Seiten
€ 9,95
Ab 14 Jahren
Jugendbuch

Simoen, Jan: Mamas Liebling

Ach, was muss man oft von bösen
Kindern hören oder lesen!

von Thomas Mayerhofer (2010)

Da sitzt er nun. Mutterseelenallein. Und das ist ungewöhnlich, war doch Nathans Mutter immer für ihn da. Ganz egal, wie viel Geld und wie viele Freiheiten der Fünfzehnjährige verlangt hat, wie oft er Ärger mit der Polizei hatte – Mama war immer für ihn da, hat immer für ihn gekämpft, immer an ihn geglaubt, an das Gute in diesem blondgelockten, blauäugigen, hübschen und charmanten Jungen. Sie hat sich getäuscht. Für den Leser offensichtlich und durch den deutschen Titel von Jan Simeons Roman „Mamas Liebling“ überdeutlich gemacht, ist es gerade die bedingungslose Aufopferung der Mutter, die Nathan immer schrankenloser seine egoistischen und sadistischen Züge ausleben lässt. Ihr Laissez-faire resultiert aus einer fast völligen Abhängigkeit von ihrem „Natty“, der für sie umso wichtiger geworden ist, seit der Vater die Familie verlassen hat. So sitzt der deswegen bisweilen als „Muttersöhnchen“ verspottete Nathan zweimal wöchentlich mit seiner Mutter auf der Couch, um ihre Lieblingsserien über sich ergehen zu lassen. Dafür bekommt er alles, was er will. Nur diesmal ist er zu weit gegangen. „Wir haben Deine Mutter angerufen. […] Sie will dich nicht abholen. […] Deine Mutter hat gesagt, das Maß sei voll. ‚Soll er diesmal alleine ausbaden.‘ Das waren ihre Worte.“ (S. 86ff.)

Bis hierhin ist „Mamas Liebling“ ein Roman über Verantwortung: Nathan muss lernen, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, die Schuld nicht immer auf andere abzuwälzen, sich mit sich selbst und seinen Schwächen auseinanderzusetzen. Seine Mutter muss lernen, dass erzieherische Verantwortung bedeutet, mit Konsequenz auf Grenzen aufzuzeigen, anstatt mit allen Mitteln um die Liebe des Kindes zu buhlen. Doch Jan Simoens Roman beschränkt sich nicht auf eine Betrachtung wohlstandsverwahrloster Jugendlicher. Was diesen Roman so verstörend macht, ist, dass Nathan schon immer so war. So erinnert er sich daran, wie er mit vier Jahren den Tod seiner kleinen Schwester erlebt hat, die wenige Tage nach der Geburt gestorben war: „Es ist natürlich sehr schwierig, es nach all den Jahren genau zu wissen, und es ist auch eine sehr unangenehme Vorstellung, dass ein vierjähriges Kind wirklich so schlecht sein kann, vor allem wenn man selbst dieses Kind ist, aber ich muss es ehrlich zugeben: Der Tod meiner Schwester war nicht schlimm für mich. Im Gegenteil.“ Auch als Sechzehnjähriger kommt er zu keinem anderen Schluss: „Ich habe meine Mama gern für mich allein.“ (81f.)

Insofern trifft der niederländische Originaltitel das Thema des Romans besser als der deutsche: Slecht – schlecht. Im Verzicht auf eine zumindest ansatzweise Erklärung der psychischen Deformationen Nathans liegt die Stärke und zugleich eine Schwäche: Die Frage nach der Wurzel des Bösen in Nathans Seele wird zwar aufgeworfen, aber auf eine Art und Weise, die daran zweifeln lässt, ob es überhaupt eine Frage ist. Nathan ist ein schlechter Charakter, und seine Umwelt hat nicht dazu beigetragen, seine vielleicht auch vorhandenen guten Seiten hervorzukehren. Zumindest der Reflex eines anthropologischen Diskurses, der dem Roman, abseits der bisweilen klischeehaften Verhörszenen, etwas Tiefgang verleiht. Nathan selbst gelingt es jedenfalls immer weniger, den offenen Blick in den Spiegel, der ein Blick in Abgründe ist, zu vermeiden.

Was Nathan eigentlich getan hat? Die nie abreißende Spannung des Buches lebt davon, dass man erst im Laufe des Verhörs über die Aussagen Nathans und introspektive Rückblenden erfährt, was er mit seiner Ex-Freundin gemacht hat – und das man ihm, während man ihn kennenlernt, alles zutraut.

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