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Titelbild
Edel, Rabea:
Das Wasser, in dem wir schlafen
München: Luchterhand 2006
159 S.
€ 16,95
Junge Erwachsene

Edel, Rabea: Das Wasser, in dem wir schlafen

Wir töten Lina

von Thomas Mayerhofer (2007)

Vielleicht wäre ja alles genauso gekommen, auch ohne Lina. Sicher ist nur, dass es mit ihrer Geburt begann. Seitdem starrte die Mutter immer häufiger abwesend und von einer seltsamen Traurigkeit erfasst ins Leere. Oder holte sich Männer ins Haus und in ihr Bett, während der Vater sich in seiner Arbeit vergrub. „So gesehen war es Linas Schuld.“

Rabea Edel erzählt in ihrem Debütroman „Das Wasser, in dem wir schlafen“ von zwei ungleichen Schwestern, die, in einer auseinanderbrechenden Familie sich selbst überlassen, beeinander Halt suchen. Doch gleichzeitig rivalisieren sie – wer der Mutter ähnlicher, wer mutiger, wer begehrenswerter ist. Wer Gregor für sich gewinnt. Gregor, der in einer Erinnerung aus seiner Kindheit gefangen ist und diese verfolgt, wie er von ihr verfolgt wird. Bei ihm sucht die eher scheue Protagonistin, Linas ältere Schwester, nach Liebe. Doch bald schon bricht Lina in diese Beziehung ein. „Als Kinder hatten wir uns versprochen, alles miteinander zu teilen. Für Lina galt das noch immer. Auch als wir keine Kinder mehr waren.“

Die Ich-Erzählerin, aus deren Perspektive der Leser das Geschehen miterlebt, bleibt, wie auch andere Figuren der Geschichte, namenlos, alterslos, im Diffusen verhaftet. Die Handlung siedelt im Nirgendwo und Irgendwann. Ein Haus, ein See, eine Kleinstadt – mehr Kulisse braucht Rabea Edel nicht, um ihr unter die Haut gehendes Drama über Liebe und das Glück, das es nicht für jeden gibt, aufzuführen. Die Figuren, die sie in ihrem Roman entwirft, erinnern an die Erzählungen Marlen Haushofers. Es sind eigenwillige, verletzliche und widersprüchliche Charaktere, umweht von Melancholie.

Die junge Protagonistin der Geschichte wirkt zumeist passiv, bisweilen erstarrt. Sie gestaltet nicht, sie beobachtet das Leben, das ihr widerfährt. Es stimmt zum Teil, was Lina ihrer älteren Schwester vorwirft: Wenn „man ein Glas über dich stülpen würde wie über eine Wespe und dieses Glas hätte ein Loch, du würdest den Ausgang weder suchen noch finden“. Die Ältere überlässt Lina die von ihr reklamierte Rolle des Enfant terrible, der Femme fatale. „Lina wollte Handlungen, ich wollte Stillstand“. Lina, die stundenlang und sogar im Winter im See schwimmt, an dem das Haus ihrer Familie liegt. Lina, die mit geschlossenen Augen über eine vielbefahrene Straße geht. Lina, die sich vor Gregor auszieht, die seine Spiele spielt, die immer ganz in das Leben eintaucht.

Lina fordert das Schicksal ein ums andere Mal heraus und kennt keine Angst, weil sie glaubt, „gegen das Glück abgehärtet“ zu sein, nicht mehr im Innern berührt werden zu können. Die schmerzhafte und für ein Kind unerklärliche Erfahrung, von der Mutter verlassen worden zu sein, mündet bei Lina in besitzergreifendem, zum Teil sadistischem Verhalten, vor allem gegenüber ihrer älteren Schwester. Ihre ausgeprägte Intelligenz ermöglicht ihr die Entwicklung psychologisch subtiler Strategien zur Ausübung ihres Kontrollbedürfnisses.

Häufig wird Lina wie aus einer anderen Welt stammend in Szene gesetzt. Sie ist gekennzeichnet durch eine Affinität zur Natur, zu Wasser und Erde, zu Sexualität. Beinahe dämonisch wirkt ihre Neigung zum Spiel mit dem Leben, dem Tod und mit anderen Menschen. Lina die Nixe, Lina der Dämon, Lina die Kindfrau – sie erinnert an zahlreiche Figuren aus der Schwüle des Fin de Siècle, die Vorbild für sie gestanden haben mögen. Sie ist befallen von immer quälender werdender Verzweiflung – doch es ist nicht diese ‚Krankheit zum Tode‘, an der sie schließlich stirbt.

Gregor ist – wie alle Figuren des Romans – von einer pathologischen Sehnsucht getrieben, deren Ursprung und genaue Beschaffenheit der Leser erst am Schluss erahnen kann. In Gregors Wohnung zeigt ein Bild neben einem kleinen Jungen im Matrosenanzug ein jüngeres Mädchen. Lange bleibt es ein Rätsel, was es mit dem Mädchen auf sich hatte, in welcher Beziehung es zu Gregor stand und was aus ihm geworden ist – aber Gregor wird umgetrieben von dem Bedürfnis, sein Gegenüber diesem Mädchen anzugleichen.

Die Ich-Erzählerin zeigt Ansätze, sich gegen diesen Missbrauch zu wehren, und damit sich selbst zu bewahren und zu behaupten. Lina dagegen reizen Gregors Phantasien. „Die Herausforderung für Lina bestand darin, sich den Bildern in seinem Kopf anzugleichen. Vor allem aber wollte sie ihn, weil ich ihn zuerst wollte.“ Die Hassliebe der beiden Schwestern intensiviert sich in der Konkurrenz um Gregor, in der die Ich-Erzählerin unterliegen muss. Viel zu geschickt kann Lina mit den Bedürfnissen Gregors um- und auf diese eingehen, sich seinen Vorstellungen spielerisch angleichen.

Der Text lebt von Verrätselungen, Andeutungen und Aussparungen. Dem Leser fällt die bisweilen unangenehme Rolle zu, die Leerstellen zu füllen – oft mit vom Text nahegelegten, aber unausgesprochenen abgründigen Bildern. So wird er zum Komplizen, der die im Mikrokosmos des Romans vorherrschende Amoral gedanklich affirmiert und fortführt. Die Faszination, die der Roman ausübt, beruht zu großen Teilen auf diesem bisweilen minimalistischen Edel-Stil. Während Figurenzeichnung, Umweltbeschreibung und Dialogstruktur knapp gehalten sind, werden einzelne Details zu ungewöhnlichen und stimmungsvollen Bildern aufgebaut; der gesamte Roman besticht durch eine eigentümliche, poetische Sprache. In diesem Kontrast liegt die besondere Qualität – und, sieht man das Buch als Debüt – das Erstaunliche: Poetische und funktionale Aspekte der Sprache werden zu einem verstörenden, atmosphärisch dichten, beklemmenden Roman verschmolzen. Dieser wirkt, auch wenn er rasch gelesen ist, lange nach – neben der Lust am Text hinterlässt „Das Wasser, in dem wir schlafen“ viele offene Fragen und regt dazu an, sich über die individuellen Lesarten, die das Buch eröffnet, auszutauschen.

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