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Titelbild
Oates, Joyce Carol:
Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
München: Carl Hanser Verlag 2008
€ 16,90
272 S.
Jugendbuch ab 14

Oates, Joyce Carol: Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon

Brückenbau

von Sarah Marten und Juliane Pfeng (2008)

Kurz gesagt schreibt Joyce Carol Oates in ihrem neuesten Jugendroman von der fünfzehnjährigen Jenna, die auf einer Brücke einen Autounfall überlebt. Bei diesem kam ihre Mutter ums Leben und sie muss nun ihr eigenes wiederfinden. Eine typische Pubertätsgeschichte, die einen dramatischen Aufhänger braucht, um die Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens zu legitimieren? Nein! Schon der bisherige Erfolg der amerikanischen Autorin, lässt erahnen, dass die Erzählung so vorhersehbar nicht verlaufen wird. In ihren, zum Teil preisgekrönten, Jugendbüchern greift sie bewegende Themen wie Freiheit und Toleranz auf. In „Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon“ sind es nicht nur diese Themen, sondern im Besonderen auch die Erzählweise, die den Leser mitfühlen lassen.

Die Geschichte von Jennas Leben nach dem Unfall wird in drei Teilen erzählt. Die kleinen Kapitel, die diese Abschnitte zum Leben erwecken sind vergangene Gedanken, die im Nachhinein sortiert werden. Dadurch haben sie an ihrer Unmittelbarkeit allerdings nichts eingebüßt. Die Protagonistin befindet sich anfangs nicht nur als „zerlumpte, alte, fortgeworfene Stoffpuppe“ im Krankenhaus, sondern auch oft „im Blauen“. Während Krankenschwestern und Besucher sie in die rohe Welt zurückholen wollen, flüchtet sie durch die starken Medikamente immer wieder in diese Scheinwelt, in der sie mit den Schneegänsen dahinfliegen kann. Dort ist es viel angenehmer als im Krankenhaus, wo Erinnerungen und Schuldgefühle sie übermannen oder der Vater mit den Geschichten von seiner neuen Familie nervt. Nach der Verlegung von der Intensivstation wird das Schmerzmittel reduziert. In Folge dessen fallen ihr Dinge ein wie: „Nach dem Unfall wollte ich nie wieder jemanden mögen. Wieso? Weil sie davonfliegen und dich alleine zurücklassen. Zu riskant.“

Den Lebensabschnitt nach Krankenhaus und Reha beschließt Jenna bei ihrer Tante Caroline und deren Familie „in Yarrow Lake“, anstatt ihn bei ihrem Vater zu verbringen. Dort kommen viele Herausforderungen wie die fremde Familie, der Kleinstadtmief und die Schule auf sie zu. „Mom ist nicht alles, was ich vermisse“, denkt sie, „es ist auch die Zeit im Blauen.“ Jenna kann die Liebe und das Mitgefühl ihrer Mitmenschen nicht annehmen. Einer von ihnen ist Crow, der ihr bei einem Sportunfall zur Hilfe kommt und ihr in prekären Situationen immer wieder über den Weg läuft. Seine düstere Erscheinung beunruhigt Jenna, doch warum wendet er sich ihr immer wieder zu? Zusätzlich lassen ihre Angst vor Brücken und die Probleme mit sich und ihren gegensätzlichen Gefühlen sie panisch spüren, dass ihr Vorrat an inzwischen sehr viel schwächeren Schmerzmitteln schwindet. Immer wieder sieht sie, „dass [ihr] Gesicht sich verschließt wie eine Faust, wenn ein Teil von [ihr] eigentlich freundlich sein möchte“. Das geht so weit, dass sie sich auch vom Unterricht distanziert und sich durch die zufällige Rettung des schon lange von weitem bewunderten „Biker-Mädchens“ auf eine lebensbedrohliche Freundschaft einlässt. Mit dieser Begegnung beginnt Jennas „neues Leben mit Trina Holland. Und immer geht was ab.“ Und zwar genau so lange, bis Jenna am Weihnachtsabend wegen einer Überdosis, die Erwachsenen nennen es Selbstmordversuch, ins Krankenhaus eingeliefert wird.

Sprachlich werden die Vorstellungen der Protagonistin zum Teil sehr zart dargestellt. So im Gedankengespräch mit der toten Mutter: „Sie lieben dich stellvertretend für mich Jenna. Bitte, lass sie.“ Andere Gedanken sind dagegen entschlossen und heftig, wie der Beschluss, dass keiner von ihren Verletzungen erfahren und niemand sie je wieder verletzen werde. Erinnerungen in Verbindung mit der Wiedergabe aktueller Gegebenheiten lassen den Leser ihre Welt verstehen und nachempfinden. Durch den metaphorischen Ausdruck von Gefühlszuständen wird besonders am Anfang des Buches die Empfindsamkeit und emotionale Instabilität des verletzten jungen Mädchens deutlich. Joyce Carol Oates erschafft so ein lebensnahes Bild einer Jugendlichen ohne einen verallgemeinernden, beschönigenden oder moralisch wertenden Anklang. Dieses wirkt durch die vielen detaillierten Bemerkungen aus Sicht des fünfzehnjährigen Mädchens überzeugend und lässt den Leser in Jennas Emotionsbad mitschwimmen.

Mit dem Titel „Neujahr“ beginnt letztendlich der dritte Lebensabschnitt nach dem Unfall auf der Brücke. Ein Neubeginn? Es gibt einiges zu klären: Die Beziehung zu Trina und ihren Freunden, die Beziehung zu ihrem Vater, zu Crow und zu den Brücken, die das Vor und das Nach dem Unfall verbinden, „das Blaue“ mit dem Realen oder einfach nur ein Flussufer mit dem anderen. So muss, auch in Jennas Bewusstsein, noch einiges passieren, bis die verletzten Brücken wieder instand gesetzt und überschreitbar sind.

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