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Burningham, John:
Hans Magnus Deubelbeiss – der Junge, der immer zu spät kam
Deutsch von Rolf Inhauser
Aarau u. a.: Sauerländer 1988
32 S., € 15,80

Burningham, John (Text und Illustration): Hans Magnus Deubelbeiss - der Junge, der immer zu spät kam

Zu spät!

von Traudl Bünger (2002)

Ein Schulweg ist eine freudlose Angelegenheit: Schrecklich früh ist das Schulkind aufgestanden, ein langer, zäher Tag liegt vor ihm. Die Riemen der schweren Schultasche drücken auf die Schultern und das Wissen um nicht erledigte Hausaufgaben auf das Gemüt.

Das ganze Elend eines Schulweges hat John Burningham in dem Eingangsbild seines Bilderbuches „Hans Magnus Deubelbeiss – der Junge, der immer zu spät kam“ inszeniert: Mit düsteren Farben gestaltet er einen dunklen Morgen. Zaghaft und mit schwachen Strahlen wirft die aufgehende Sonne helle Tupfer auf die karge Landschaft. Endlos windet sich der Weg, auf den die grau-braun gekleidete Gestalt in verschlafener Haltung ihre ungelenken Schritte setzt.

Diese Tristesse verkehrt Burningham im nächsten Bild in das absolute Gegenteil: Die Sonne ist aufgegangen, die Landschaft in fröhliche, frische Farben getaucht, die Schraffur des ersten Bildes ist einem schwungvollen Pinselstrich mit satten Acryl- und Aquarellfarben gewichen. Und Hans Magnus Deubelbeiss schleicht nicht länger gebeugt einher, sondern ist wach und in Aktion – kein Wunder, schließlich wurde das tägliche Einerlei von einer wirklichen Sensation unterbrochen: „Unterwegs aber kam ein Krokodil aus einem Kanalloch und packte seine Büchertasche.“ In einem dramatischen Kampf kann Hans Magnus Deubelbeiss dem Krokodil seine Büchertasche entwinden, büßt dabei aber einen Handschuh ein und – viel schlimmer – kommt zu spät zur Schule. Immerhin kann er alles erklären: „Ich komme zu spät, Herr Lehrer, weil ein Krokodil aus dem Kanalloch kam und meine Tasche gepackt hat und erst losgelassen hat, als ich ihm meinen Handschuh hingeworfen habe, den es dann gefressen hat.“ Leider weiß der Lehrer Ehrlichkeit nicht zu schätzen: Dreihundertmal muss Hans Magnus Deubelbeiss den Satz schreiben: „Ich darf keine Krokodil-Lügen erzählen und meinen Handschuh nicht verlieren.“

Genauso wenig glaubt der Lehrer Tage später, dass ein Löwe für die zerrissene Hose und die Verspätung verantwortlich ist oder dass eine Riesenwelle Hans Magnus Deubelbeiss aufhielt und durchnässte. Immer drakonischer werden die Strafen, immer höher die Wutsprünge des Lehrers. Als er Hans Magnus Deubelbeiss sogar mit Stockschlägen droht, enden die Zwischenfälle auf dem Schulweg. „Unterwegs passierte gar nichts, und er kam zur rechten Zeit.“ Die Disziplinierung scheint geglückt, die Ordnung der Schule wiederhergestellt. Nur – wer traut John Burningham, dem Summerhill-Absolventen und Freund ungezogener Kinder, schon ein solches Ende zu?

Obwohl er augenscheinlich eine dramatische Geschichte erzählt, in der ein Kind von wilden Tieren und Naturereignissen bedroht und von seinem Lehrer bestraft wird, haben Burninghams Bilder – zumindest auf den zweiten Blick – nichts Furchterregendes. Die frische, eindringliche Farbgestaltung der Szenen, in denen Hans Magnus Deubelbeiss mit Krokodilen, Löwen und Flutwellen kämpft, transportiert lustvolle Spannung und Aufregung. Und die Darstellung der Tiere lässt keinen wirklichen Schauder zu: Das Krokodil sieht mit seinen rudernden Armen und Kulleraugen ausgesprochen niedlich aus. Der Löwe ist zwar riesig – aber Zähne hat er nicht. Außerdem packt er Hans Magnus Deubelbeiss’ Hosenboden beinah zärtlich. Der wutschnaubende Lehrer wirkt bedrohlich und lächerlich zugleich – glubschäugig, mit entrücktem Blick und trotz respekteinflößender Attribute wie Frack, eckigem Zylinder, Stock und Katheder am Ende machtlos. Der lakonisch-ironische Text zu den Bildern sorgt für Witz. Gerade die dramatischen Momente sind mit besonders lapidaren Kommentaren versehen.

Der Plakatmaler, Karikaturist und Regisseur John Burningham ist bekannt für hintergründige Bilderbücher und eine breite Palette bildnerischer Techniken. Viele davon zeigt er in „Hans Magnus Deubelbeiss – der Junge, der immer zu spät kam“: Landschaftsansichten präsentiert er oft als großzügiges Panorama. Die kleine Gestalt auf dem Weg ist das einzige Element, das sich von dieser Szenerie abhebt – sie wirkt wie in das Bild geklebt, wodurch ein Eindruck von Verlorenheit, aber auch unverzagtem Willen entsteht. Satte Illustrationen in Aquarell, Tusche und Acryl mit lässiger Federführung, verschwommene Konturen und vorsichtig mit Deckweiß aufgetupfte Formen wechseln sich ab mit fein ausgeführten Bleistiftschraffuren, genau konturierten Tusche- oder kargen Umrisszeichnungen. So muten die dargestellten Szenen mal klar umrissen und wirklich, mal schemenhaft-traumartig an. Oft trägt Burningham mehrere Schichten Farbe auf und kratzt dreidimensionale Effekte oder Lichtreflexe hinein. Dadurch gewinnen die Bilder Plastizität und Tiefe. Für Orientierung in dieser Bilderwelt sorgt die immer gleiche Abfolge von Seitenaufteilungen in der zyklischen Erzählstruktur.

Mit konventioneller Bilderbuchillustration haben Burninghams Bilder nicht viel gemein. Ihre Vielschichtigkeit und Bedeutungsvielfalt zu erkennen, erfordert Neugier und einen aufmerksamen Blick. Denn aufdringliche Effekte sind nicht Sache des international mehrfach ausgezeichneten Künstlers. Behutsam transportiert er Stimmungen und spielt subtil mit verschiedenen Bedeutungsebenen. Handellt es sich um eine fantastische Geschichte? Ist es Hans Magnus Deubelbeiss selbst, der seinen langweiligen Schulalltag mit Großwild dramatisiert? Oder sind Krokodile, Löwen und Wellen vielleicht doch nur freche Ausreden?

Unverzeihlich sind die sprachlichen Schwächen und Grammatikfehler der deutschen Übersetzung: „Hier gibt es keine in Kanallöchern lebende Krokodile.“ In den knappen, zurückhaltenden Sätzen der Erzählung fallen sie besonders auf. Nicht nur aus diesem Grund wäre eine verbesserte Neuauflage des vergnüglichen Bilderbuches ausgesprochen wünschenswert!

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„Hans Magnus Deubelbeiss – der Junge der immer zu spät kam“ gibt es auch als Hörspiel. Sieben thematisch sehr unterschiedliche Bilderbücher hat Martin Daske mit Musik und Geräuschen unterlegt und auf einem Tonträger zusammengestellt. Zum begleitenden Hören bei der Lektüre ist die Hörspielversion von Burninghams Buch gut geeignet. Ganz auf das Buch verzichten sollte man jedoch nicht – schließlich sind die Bilder das Wichtigste und der Text im Gesamtkonzept eher sekundär.


Du hast angefangen! Nein du!
Und sechs weitere klingende Bilderbücher
Regie und Musik: Martin Daske
München: Der Hörverlag 1998
MC: € 8,50