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Titelbild
Kim, Helen:
Die Zeit des langen Regens
Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold
Frankfurt a. M.: Fischer 1998
(Fischer Schatzinsel)
328 S.

Kim, Helen: Die Zeit des langen Regens

Mutters neue Frisur

von Barbara Quadflieg und Anja Segschneider (1999)

„Wie alle traditionellen Häuser in Korea bot unser Haus sehr wenige Möglichkeiten sich abzuschotten. [...] Selbst wenn alle Türen geschlossen waren, konnten wir Großmutter in ihrem Zimmer die Bibel lesen hören.“ Es ist die lange Regenzeit, in der die Familie die Enge des Hauses spürt. Die in Korea geborene und aufgewachsene Autorin Helen Kim lässt die elfjährige Tschunhi die angespannten familiären Beziehungen beobachten, die sehr stark durch traditionelle Rollenzuschreibungen geprägt sind.

Die herrschsüchtige Großmutter verfügt darüber, welche Kleider und Frisuren getragen werden und was gekocht wird. Ihrer Schwiegertochter lässt sie kaum Entscheidungsfreiheit. Selbst die Schränke werden von ihr kontrolliert. Auch in der Erziehung Tschunhis und ihrer drei Schwestern trifft die Großmutter die Entscheidungen. Der Vater nimmt kaum Anteil an der Familie. Enttäuscht, dass seine Frau ihm keinen Sohn geboren hat, und wegen der ermüdenden Machtkämpfe mit seiner Mutter führt er ein eigenes Leben beim Militär, mit seinen Freunden und anderen Frauen.

Mit der Aufnahme des Waisenjungen Pjongsu bricht der Konflikt auf: Die Mutter will sich durch die Adoption Pjongsus ihren Wunsch nach einem Sohn erfüllen. Als Ehemann und Schwiegermutter das strikt ablehnten, verlässt Tschunhis Mutter die Familie. Sie ist nicht bereit, weiterzuleben wie bisher. Nicht nur ihre Töchter merken bald, wie wichtig sie für die Familie ist. Doch erst als Tschunhis Vater sich bemüht, seine Rolle als Ehemann und Familienvater wahrzunehmen, kehrt sie nach Hause zurück.

Die beginnende Emanzipation erleben wir aus der Sicht Tschunhis, die ihrer Mutter sehr ähnelt und nach ihrer eigenen Stellung in der Familie sucht. Helen Kim erklärt nicht, sondern gewährt den Lesern durch Tschunhis Beobachtungen des alltäglichen Lebens und durch von ihr aufgeschnappte Gesprächsfetzen einen Blick hinter die Fassade der starren Strukturen. Dabei vermittelt die Autorin Vertrautheit und bewahrt zugleich die Fremdheit der anderen Kultur. – „The Long Season of Rain”, wie der Originaltitel lautet, steht auf der diesjährigen Nominierungsliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis.

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