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Titelbild
Nikolaus Heidelbach:
Wenn ich groß bin, werde ich Seehund
Weinheim u. a.: Beltz & Gelberg 2011
16 ungez Bll.
€ 14,95
Ab 6 Jahren
Bilderbuch

Heidelbach, Nikolaus: Wenn ich groß bin, werde ich Seehund

Perlbootsmänner und Hofdugongs

von Johanna Wolff Metternich (2012)


„Ein Buch ohne Geheimnis, ohne Zauber ist uninteressant,“ sagt Nikolaus Heidelbach, Autor und Illustrator dieses Buches, angesprochen auf seine unkonventionellen Bilderbücher. Doch wie kommen Zauber und Geheimnis in dieses Buch?

Erzähler ist ein kleiner Junge, der mit seinen Eltern in einem Haus wohnt, von dem aus man nur die Dünen und das Meer sehen kann. Sein Vater ist ein typischer Seemann mit Ankertätowierung und Feierabendbier, seine Mutter eine perfekt strukturierte Hausfrau mit Schürze. Der kleine Junge liebt das Schwimmen, er schwimmt wie ein Fisch.

Das ganze Leben der kleinen Familie ist auf das Meer ausgerichtet: Zum Essen gibt es Muscheln, an den Wänden hängen Harpunen, Reusen und Bilder von großen Schiffen. Sogar die Geschichten, die die Mutter dem kleinen Jungen im Tausch gegen kleine Muscheln und Steine erzählt, spielen im Meer. Erstaunlich scheint es nur, dass seine Mutter die Bewohner des Meeres so lebensecht beschreiben kann, dass sie vor dem Auge des Sohnes lebendig werden und ihn bis in seine Träume begleiten, obwohl sie selbst niemals auch nur einen kleinen Zeh ins Wasser setzt.

Die Mutter erzählt ihm von „Perlbootsmännern“, „Krabbenmädchen“, „Hofdugongs“ und vielen anderen fantastischen Erscheinungen. Heidelbach lässt all diese Wesen in einem Schwarm vom Abendessenstisch über acht Seiten ins Schlafzimmer des Jungen ziehen. Diese Seiten sind das prächtige Herzstück des Buches. Heidelbach benutzt Tusche und Aquarell so kunstvoll und exakt, dass man es sehr bedauert, diese Seiten nicht als Leporello im Ganzen vor sich ausbreiten zu können. Seine ozeanischen Fabelwesen sind geschmückt mit Perlen, Edelsteinen, Muscheln und edlen Gewändern. Sie tragen Kronen und Mieder, Ketten und Haarbänder und zuweilen auch ganze Dörfer auf dem Rücken. Durch die leuchtende Farbigkeit, den weißen Hintergrund und den fehlenden Text schafft Heidelbach hier eine Parallele zu der ersten Doppelseite, die den Jungen, mit einem Fisch schwimmend, vorstellt. So schafft er es schon alleine durch die Bilder zu zeigen, was das Leben dieses Jungen bunt macht. Der Rest der Geschichte spielt sich in streng mittig zentrierten Quadraten ab: oben jeweils ein Bild und darunter wenig Text, ringsherum ein breiter weißer Rand. Die Farbigkeit ist hier eher gedeckt und zurückhaltend.

Das Rätselhafte, Geheimnisvolle, das zwar schon am Anfang der Geschichte in dieser gedeckten Farbigkeit diffus mitschwingt und das die Spannung erzeugt, kommt dennoch völlig unerwartet: Eines Nachts kann der Junge nicht schlafen und sieht deshalb, dass sein Vater etwas aus dem Schuppen ins Haus holt. Seine Mutter hat ihm oft von den Seehunden erzählt, die ihr Fell abstreifen und so in menschlicher Gestalt an Land leben können. Gelingt es ihnen, ihr Seehundfell sicher aufzubewahren, können sie es sich jederzeit wieder überstreifen und ins Meer zurückkehren. Als er das glänzende Etwas findet, ist den Jungen eines direkt klar: Es muss sich um das Seehundfell seines Vaters handeln.

Nun folgt der inhaltliche Höhepunkt der Geschichte: Schon rein optisch erkennt man, dass hier etwas anders ist. An diesem Abend erzählt nicht die Mutter ihrem Sohn eine Geschichte, dieses Mal stellt der kleine Junge seiner Mutter ein Rätsel. Diesem Rätsel ist die einzige reine Textseite des Buches reserviert. Auf der gegenüberliegenden rechten Seite sieht man Mutter und Sohn, die sich in gleicher Körperhaltung gegenüberstehen. Wieder betont Heidelbach diese Szene besonders, indem er die Figuren vor einen weißen Hintergrund setzt und mit der quadratischen Darstellungsweise bricht. Aber als der Junge seiner Mutter des Rätsels Lösung unterbreitet, reagiert sie kurzangebunden und sagt ihm nur noch zerstreut Gute Nacht. Und am nächsten Morgen dann das Unbegreifliche: Sie ist es. Sie ist weg. Es ist ihr Fell. Sie ist zurück ins Meer gegangen.

Heidelbach, der zu diesem Buch durch eine keltische Sage inspiriert wurde, baut die Geschichte so einfach und zugleich so vielschichtig auf, dass sie einen packt, irritiert und unzählige Fragen aufwirft. Seine Geschichte über Liebe und Freiheit gibt jeder Altersstufe die Möglichkeit, Erstaunliches zu entdecken. Die Lücken in der Geschichte des kleinen Jungen lassen dem Leser jede Freiheit, auf die Unglaublichkeit, die dieses Kind verkraften muss, zu reagieren: wütend, irritiert, verständnislos, aber auch traurig, mitfühlend oder sogar bewundernd. Vielleicht kann man sich nach mehrmaligem Lesen und Neudenken aber doch über die Versöhnung des Jungen mit seiner neuen Situation freuen: „Wenn ich größer bin werde ich Seemann. Oder Seehund.“

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