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Els Beerten:
Als gäbe es einen Himmel. Roman
Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
Frankfurt am Main: Fischer (FJB) 2011
615 Seiten
€ 19,95
Jugendbuch ab 14 Jahren

Beerten, Els: Als gäbe es einen Himmel. Roman

Der Krieg macht seltsame Dinge mit den Menschen

von Johanna Glaser (2012)


Belgien ist während des Zweiten Weltkrieges von den Deutschen besetzt. Die Geschichte von Els Beertens Roman „Als gäbe es einen Himmel“ spielt hauptsächlich in einem kleinen, flämischen Dorf während und nach dem Krieg. Es gibt Kollaborateure, die auf der Seite der Deutschen kämpfen, flämische Nationalisten, Widerstandskämpfer und Menschen, die sich nicht in den Krieg einmischen und nicht auffallen wollen.

Familie Claessen ist wohl der letzten Gruppe zuzuordnen, auch wenn der Vater und die Mutter von Jef, Renée und Remi klare Gegner der Deutschen und ihres wahnsinnigen Krieges sind. Beerten erzählt, wie die Familie und Jefs bester Freund Ward den Krieg erleben und wie unterschiedlich sie damit umgehen.

Die Autorin zeigt einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit und verdeutlicht daran die historische Bedeutung der Geschehnisse. Das Dorf und die Familie Claesen sind ein in sich geschlossener Mikrokosmos, die Geschichte wird auf kleinstem Raum und mit einer überschaubaren Gruppe an Figuren sehr verdichtet und intensiv erzählt.

1943, als Jef und Ward ungefähr neunzehn Jahre alt sind, erzählt ihnen ihr Geschichtslehrer Albrechts, dass von den Russen eine große Gefahr für das christliche Belgien ausgehe: Die Bolschewisten wollen den Belgiern „Gott wegnehmen und ihre Kirchen niederbrennen“. Auch der Priester Vanden Avenne hetzt die Schüler gegen Russland auf und wirkt auf sie ein, Belgien gegen den angeblich bevorstehenden Einmarsch der Russen zu verteidigen und an der Ostfront an der Seite der Deutschen zu kämpfen. Ward und Jef glauben ihrem Lehrer und sind begeistert von der Idee, ihr Land zu verteidigen und Helden zu werden. Zu Hause sieht die Situation anders aus: Jefs Vater wird sehr wütend, als er davon erfährt, und verbietet seinem Sohn, in den Krieg zu ziehen. Ward jedoch entscheidet sich, an die Ostfront zu gehen, und lässt sich von niemandem davon abhalten. Die Folgen sind für ihn fatal: Fortan gilt er in seiner Heimat als Vaterlandsverräter und Kollaborateur. Auch die Familie Claessen wendet sich von Ward ab.

Der Roman beginnt und endet 1967 mit der Trauerfeier für Jef. Seine Beerdigung bildet den zeitlichen Rahmen und den Erzählanlass der Geschichte. Von dort wird die Geschichte rückblickend aus der Perspektive von vier wechselnden Ich-Erzählern, den Hauptfiguren Jef, Renée, Remi und Ward, erzählt. Beinahe nach jedem Kapitel wechselt der Ich-Erzähler, was den Einstieg in die Geschichte am Anfang nicht einfach macht. Das Buch spielt auf wechselnden Zeitebenen während des Zweiten Weltkriegs und danach; die Geschichte wird nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt.

Die Figuren sind sehr liebevoll, vielschichtig, glaubwürdig und differenziert gezeichnet. Durch die verschiedenen Ich-Perspektiven erhält der Leser Einblick in die Gefühle, Gedanken, Ängste und Hoffnungen der Protagonisten.

Jef ist der älteste der drei Geschwister. Er entscheidet sich nach dem Abitur, in der örtlichen Grube zu arbeiten. Bevor Ward an die Ostfront geht, sind Jef und Ward beste Freunde. Jef bewundert und verehrt Ward regelrecht und möchte so sein wie er. Zusammen mit Ward will er in den Krieg ziehen, um „etwas Gutes“ zu tun. Doch letztlich hat er nicht den Mut dazu, gegen das Verbot seiner Eltern zu handeln, die ein straffes Familienregiment führen. Während der ganzen Geschichte ist er durch ein schlimmes Ereignis sehr belastet. Dieses Ereignis steht im Zusammenhang mit einer Medaille, die Jef für eine vermeintliche Heldentat bekommen hat. Die Medaille taucht als Motiv immer wieder auf und hat für alle Protagonisten eine unterschiedliche Bedeutung. Jefs Eltern macht die Medaille stolz, Jef macht sie unglücklich, da sie symbolhaft für sein Geheimnis steht, und seinen kleinen Bruder Remi macht sie eifersüchtig. Der Leser erfährt aber erst sehr spät, warum Jef so unglücklich ist.

Renée ist die Mittlere in der Geschwister-Konstellation, sie findet eine gute Art, mit den schwierigen Ereignissen umzugehen, und beschreitet selbstbewusst ihren Weg zur Musikstudentin. Der Jüngste, Remi, ist 1943 acht Jahre alt und kann deshalb nicht alles verstehen, was um ihn herum passiert. Auf seine vielen Fragen bekommt er keine Antworten. Seine Geschwister und Eltern wollen ihn schützen und mit der Wahrheit verschonen. Er ist ein sehr liebenswerter Junge, der immer versucht allen zu helfen und der seine Eltern und Geschwister ,durch „kleine Wunder“ glücklich machen möchte.

Ward wiederum ist, bevor er sich an die Ostfront meldet, ein sehr fröhlicher und bei allen beliebter junger Mann. Er kann sehr gut Saxophon spielen, was vor allem Renée fasziniert. Die beiden verlieben sich ineinander und sind für eine Zeit ein Paar. Sein Entschluss, an der Seite der Deutschen zu kämpfen, verändert sein Leben jedoch nachhaltig. Als er nach dem Krieg zurückkehrt, muss er feststellen, dass sein ehemals bester Freund Jef nicht mehr zu ihm steht.

Alle vier verbindet die Suche nach innerer Orientierung und die Frage, in welche Richtung ihr Leben gehen soll. Auch die Beziehungen zwischen den verschiedenen Charakteren werden sehr intensiv geschildert und wirken durch die vielen Dialoge sehr lebendig. Beeindruckend ist, dass Beerten ihre Figuren, einerlei ob Widerstandskämpfer oder Kollaborateur, vor allem als Menschen porträtiert und dabei Schwarz-weiß-Denken vermeidet.

Die Autorin konfrontiert den Leser in ihrem großartigen Roman mit sehr vielen Themen. So geht es um Freundschaft, um Zusammenhalt in der Familie, Verrat, Schuld, Liebe und um den Wunsch, ein Held zu sein. Die Grausamkeit und Unsinnigkeit des Krieges werden deutlich, der Leser erfährt, was der Krieg mit den Menschen macht, wie unterschiedlich sie darauf reagieren und für welche Seite sie sich warum entscheiden. Es wird aber auch der Versuch beschrieben, während des Krieges ein 'normales' Familienleben zu führen, ab und zu auch schöne Momente zu erleben und Spaß zu haben.

Ein großes Thema ist in der Familie Claessen die Musik, die alle Hauptfiguren verbindet und ihnen immer wieder Hoffnung gibt. Jef, sein Vater, Reneé und Ward spielen gemeinsam mit einigen anderen Dorfbewohnern in der Blaskapelle „Unsere Sehnsucht“. In der Blaskapelle kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen, die der Wunsch, Musik zu machen, auch in Zeiten des Krieges verbindet. Auch als die Blaskapelle von den Deutschen verboten wird, proben sie heimlich weiter. Die Musik hilft den Protagonisten, nicht die Hoffnung zu verlieren und weiterzumachen. Zentral sind auch moralische Konflikte und Fragen, die sich sowohl die Protagonisten als auch die Leser stellen: Was ist die Konsequenz einer schmerzvollen Entscheidung? Was bedeutet es, ein guter oder ein schlechter Mensch zu sein? Was ist richtig? Was ist falsch? Was ist die Wahrheit? Was ist eine Lüge? Wer kommt in den Himmel? Und hat man immer eine Wahl, sich so oder anders zu entscheiden?

Els Beerten, 1959 in Belgien geboren, ist erfolgreiche Autorin von fast zwanzig Kinder- und Jugendbüchern. Für „Als gäbe es einen Himmel“ erhielt sie insgesamt vier belgische und niederländische Literaturpreise. Beertens virtuoser Stil zeichnet sich durch ihre sehr lebendige, kunstvolle Sprache voller Bilder aus. Sie schafft es, ihre Charaktere und die Handlung immer differenziert, vielschichtig und facettenreich darzustellen.

Die Autorin legt mit „Als gäbe es einen Himmel“ einen historischen Roman vor, der zugleich ein spannender Entwicklungsroman ist. Ihr gelingt es, eine komplexe Geschichte zu konstruieren, einen dichten Teppich aus verschiedenen Erzählsträngen zu weben und nach und nach zusammenzuführen. Gegen Ende entwickelt sich der Roman fast zu einem Krimi, da alles unaufhaltsam auf den fesselnden Höhepunkt zuläuft und sich der Leser ständig fragt, ob die Wahrheit noch ans Licht kommen wird. Beachtlich sind die stimmige Dramaturgie und der Spannungsaufbau, der durch die wechselnden Ich-Erzähler und Zeitperspektiven sowie eine starke Zuspitzung der Geschehnisse erreicht wird. Was die Figurengestaltung betrifft, so zeigt Beerten Könnerschaft darin, ihre Charaktere mehrdimensional und komplex anzulegen. Ein hoher Grad von Authentizität entsteht auch durch das häufige Erwähnen realer Kriegsereignisse.

Beertens Roman ist sehr anspruchsvoll, zu empfehlen für leseerfahrene Jugendliche ab 14 Jahren und für Erwachsene. Leser brauchen ob des Umfang des Buches auch ein gewisses Durchhaltevermögen, was aber durch die hohe Spannung kompensiert wird: Das Werk zieht den Leser von Anfang bis Ende in seinen Bann. Es ist mitreißend, emotional, erschütternd, berührend traurig und schön zugleich – und wirft viele Fragen auf.

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