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Hervé Jaouen:
Pardon, Monsieur, ist dieser Hund blind?
Aus dem Französischen von Corinna Tramm
Stuttgart: Freies Geistesleben & Urachhaus 2013
189 Seiten
€ 14,90
Übergangsbuch ab 12 Jahren

Jaouen, Hervé: Pardon, Monsieur, ist dieser Hund blind?

Charmant ver(w)irrt

Kerstin Witzler (2013)


Die dreizehnjährige Véro hat ein „fabelhaftes Intellektuellen-Elternpaar“, der Vater ist Philosophielehrer und die Mutter Übersetzerin. Sie lebt mit ihnen und ihrem älteren Bruder in einem Häuschen inmitten der bretonischen Landschaft. In der Nachbarschaft nahe dem Meer wohnt die Großmutter in einer Fachwerkvilla mit Garten. „Omama“, wie Madame Lavielle von der Familie liebevoll genannt wird, ist von vornehmem Aussehen und im Habitus eine echte Dame.

Als zu Beginn des Sommers Madame Lavielles zunehmende Gedächtnisstörungen besorgniserregende Ausmaße annehmen und sie ihre Küche in Brand setzt, handelt die Familie: Omama bekommt Véros Zimmer mit Bad und Véro bezieht das gegenüberliegende Speicherzimmer. Der Arzt diagnostiziert Alzheimer bei der charmanten Dame, die fortan das Leben der Familie ordentlich durcheinanderwirbelt. So entwendet sie Silberbestecke und Kristallgläser vom Esstisch und Papier von der Toilette und hortet alles unter dem Bett, da sie sich in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und der Rationierungen wähnt. Immer wieder des Nachts um drei sucht sie nach einer Brosche, die sie einst von einem Verehrer geschenkt bekam, und bringt so die Familie um ihren Schlaf. Gemeinsam gelingt es Véros Familie jedoch, solche Situationen souverän und mit viel Humor zu meistern: Als Omama beispielsweise eines Abends ihr Stück vom Kuchen einfordert, weil im Fernseher gerade Geburtstag gefeiert wird, wird in Minutenschnelle ein Kuchen schockentfrostet, Champagner herbeigebracht und bei Kerzen ein Geburtstagslied gesungen.

Der Schriftsteller Hervé Jaouen, ein gebürtiger Bretone, der bis dahin in seiner Heimat vor allem für seine Kriminalromane bekannt war, schrieb dieses Buch in Anlehnung an die ‚Omama’ seiner engen Freunde und deren Geschichte. Deren Mitschriften hat er auch einige Anekdoten entnommen, wie jene mit dem vermeintlich blinden Hund am Strand, auf die der deutsche Titel zurückgeht. In Frankreich gewann das bereits 1999 unter dem Originaltitel „Mamie mémoire“ erschienene Werk 2000 den Prix Chronos, einen Preis, der solche Bücher würdigt, in denen die Beziehungen zwischen jüngeren und älteren Menschen im Vordergrund stehen. 2001 gewann Jaouen auch den Prix des Incorruptibles. Das Buch wurde 2006 für das Theater adaptiert und gehört seit einigen Jahren zur Pflichtlektüre in französischen Schulen. „Mamie mémoire“ wurde bereits in zwölf Sprachen übersetzt. In Deutschland gehört es zu den nicht eben zahlreichen Jugendbüchern, die sich mit dem Thema Demenz und Alzheimer auseinandersetzen.

Über die Jahreszeiten Sommer, Herbst und Winter hinweg erzählt Véro den Verlauf der Erkrankung. Bei der jahreszeitlichen Ordnung der Erzählung geht es nicht nur um eine schlichte Zeitanordnung des Geschehens, sondern auch um eine symbolische Bedeutungsebene: „ ‚[...] Der Mensch hat ein tiefes Bedürfnis nach jahreszeitlichen Veränderungen, damit er die Zeit messen kann, die vergeht. Was bleibt ihm sonst übrig? [...] Wir brauchen den Frühling, weil er uns die Illusion der Unsterblichkeit gibt.‘ ‚Omama hat kein Gefühl mehr für die Jahreszeiten. Das muss furchtbar sein.‘“

Anfangs überwiegen die vielen humorvollen, teilweise auch situationskomischen Szenen, die Véros Familie den eigentlich traurigen Umständen abgewinnen kann. Dem Auftrag des Arztes, das Gedächtnis der alten Dame zu stimulieren, um die Erinnerungsverluste aufzuhalten, kommt die Familie mit großer Kreativität nach. Man erstellt einen Film über Omamas Leben mit Ton- und Bilddokumenten ihrer Zeit, und es gibt sogar eine Lesung des schönsten ihrer Liebesbriefe, die Véro entdeckt hat. Nach und nach durchdringen jedoch auch Sorgen und Nöte, sowohl die Omamas als auch die der Familie, die Erzählung. Später im Frühling wird die fortschreitende Rückentwicklung der Großmutter, als sie nahezu keine Erinnerungen mehr besitzt, schonend nur mehr angedeutet.

Im Gegensatz dazu entwickelt die Erzählerin immer mehr Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Umwelt. So beginnt sie beispielsweise, ihre Techtelmechtel mit Renaud und Rémi zu relativieren, da sie durch die Lektüre der gefundenen Liebesbriefen auf andere Dimensionen der Liebe stößt. Bei der Auseinandersetzung mit den Erinnerungsfragmenten ihrer Großmutter und den Fundstücken aus Omamas Reisekoffer, der in Véros Zimmer abgestellt worden ist, gewinnt sie wichtige Einsichten über Leben und Tod und beschließt: „Véro, du wirst Omamas Gedächtnis sein, bis du alt wirst und es selbst verlierst, dein Gedächtnis.“

Während Véro diese Geschichte schreibt, schweift sie immer wieder vom zu Erzählenden ab, schildert kleine Szenen oder beschreibt ihre Gedankengänge. Ihr Schreiben ist ein Prozess, an dem sie den Leser – nicht nur durch direkte und indirekte Leseranreden – teilhaben lässt. Dies wird besonders deutlich in den häufig eingeflochtenen Dialogen, die mit ihren ‚Regieanweisungen‘ wie kleine Theaterszenen wirken, aber auch an der Zeitkonstruktion der Erzählung: Glaubt man eingangs, es werde eine bereits abgeschlossene Geschichte erzählt, erfährt man später, dass deren Aufzeichnung stattfindet, während die Ereignisse noch im Fluss sind. Auch die mehrfachen Selbstunterbrechungen der Schreiberin/ Erzählerin („Lassen wir das!“) markieren den Werdeprozess der Erzählung. Im Gegensatz zu ihrer Enkelin, die sich immer wieder neu justiert, verirrt sich die alte Dame jedoch immer mehr in ihren Erinnerungen.

Dabei sind ihre Ängste, die häufig mit dem Krieg verknüpft sind, durchaus real: Die Krankheit lässt sie beispielsweise eines Abends ein Feuerwerk wie eine Bombardierung erleben. Dem Autor gelingt es aber, solche Momente und Situationen mit Wortspielereien oder Situationskomik aufzulösen und ihnen so die Schwere zu nehmen. Dies macht die Geschichte so anrührend wie unterhaltsam.

Das Verhalten von Véros Familie kontrastiert Jaouen mit dem des Onkel und seiner Familie. Diese sind nur selten Zaungäste in Omamas Leben und in erster Linie an der Erbschaft zwecks Anschaffung einer neuen Yacht interessiert. Emotionale Werte zählen wenig bei Onkel und Tante, sie sind geradezu karikaturhaft egoistisch und habgierig. Beispielsweise findet sich die so häufig nächtens verzweifelt gesuchte Brosche ‚zufällig’ am Kleid der Tante wieder. Deren Kommunikation mit der alten Dame scheitert immer wieder, da sie gar nicht bereit ist, sich auf die Schwiegermutter einzulassen. Als Onkel und Tante die Ferienbetreuung für drei Wochen übernehmen, sind sie schnell überfordert. Sie zögern nicht lange und schieben Omama in ein Heim ab, aus dem sie sie blässlich und abgemagert zurückbringen.

Jaouen gelingt es in seinem Buch, ein sehr treffendes Bild dieser ernsten Krankheit zu vermitteln. Gleichzeitig zeigt er aber auch, wie mit Esprit und humorvollem Eingehen auf die Bedürfnisse so Erkrankter ein gelingendes Zusammenleben durchaus möglich ist. Seine Bilder für Alzheimer – erlöschende Felder auf einem blinkenden Schachfeld oder herabfallende Blätter eines Baumes – sind auch für Erwachsene sehr anschaulich.

Lesern ab 12 Jahren, aus gegebenem Anlass jedoch auch schon ab acht oder neun Jahren, bietet dieses Buch einen warmherzigen und lebensbejahenden Einstieg in das Thema Alzheimer.

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