zum Inhalt springen

vergrößern:
Olaf Hintze und Susanne Krones:
Tonspur. Wie ich die Welt von gestern verließ
München: Dt. Taschenbuch-Verl. 2014 (dtv Reihe Hanser)
360 Seiten
€ 14,95
Kindle Edition: € 12,99
Jugendbuch ab 14 Jahren

Hintze, Olaf und Susanne Krones: Tonspur. Wie ich die Welt von gestern verließ

Soundtrack der Freiheit

von Florian Gatz (2014)

„Die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu, und es wird eigentlich nicht so sehr mein Schicksal sein, das ich erzähle, sondern das einer ganzen Generation – unserer einmaligen Generation.“ (Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers)

Diese Worte Stefan Zweigs intonieren zentrale Themen und Gedanken in „Tonspur – Wie ich die Welt von gestern verließ“, verfasst von Olaf Hintze und Susanne Krones. Die Autoren erzählen die Geschichte des technisch versierten, vom System desillusionierten DDR-Bürgers Olaf Hintze, der seinen Weg aus dem Sozialismus in die Bundesrepublik Deutschland sucht und findet. Dabei folgen Hintze und Krones biografischen Ton-, Text- und Materialspuren, die Olaf Hintze geprägt haben und von ihm akribisch auf Audiokassetten, Eintrittskarten und Kalendern notiert wurden. Ergänzt wird der Text durch zahlreiche Fotos aus Hintzes Vergangenheit. Sie werden in der Mehrzahl als Kassettencover abgebildet und sind eindrucksvolle Zeugnisse seines Lebens. Neben den Fotos finden sich sowohl einschlägige Zitate aus der Autobiographie des Schriftstellers Stefan Zweig als auch Aussagen des Protagonisten selber, letztere als wörtliche Rede gekennzeichnet.

Der junge Hintze, 1964 in Erfurt geboren, erlebt schon früh, dass das Leben in der DDR von teils erheblichen Entbehrungen geprägt ist. Es gehört zur Tagesordnung, in der Schlange zu stehen, auf seltene Waren zu warten oder von Literatur oder Musik abgeschnitten zu sein.

Schutzraum bietet die Familie: „Hier konnte man offen reden. Umso wichtiger war es, den Kindern früh zu vermitteln, dass ein Unterschied zwischen drinnen und draußen bestand und dass ein einziger Gast in der eigenen Wohnung das Drinnen in ein Draußen verwandeln konnte. Einmal gelernt, vergisst er die Lektion nie wieder.“ Olafs Familie distanziert sich vom Regime: „Er hörte seinen Vater am Küchentisch: In unserer Familie ist das so: Während der Nazizeit ist keiner in die Partei eingetreten, und bei den Kommunisten machen wir das auch nicht.“

In den Siebzigerjahren entdeckt Olaf seine Begeisterung für Technik. Wann immer er kann, sammelt er Bauteile, wickelt Spulen und bastelt seine ersten Radiobauteile. „Radiotechnik hat mich von Kindheit an fasziniert. Die Radiowellen waren unsichtbar, sie konnten Grenzen überwinden“, erläutert Hintze. Als er es schafft, einen UKW-Sender zu konstruieren, betreibt er einen eigenen Piratensender, der ihm ermöglicht, seine Musikauswahl mit einer Hörerschaft zu teilen. Westmusik, die in seiner Familie häufig gehört wird, fasziniert Hintze. Er stellt Kassetten zusammen, nimmt die Titel aus dem Radio auf und besorgt sich die wichtigsten Alben auf Vinyl, obwohl er keine entsprechende Abspielmöglichkeit besitzt. Schon für diese Zeit spricht Hintze von einem Doppelleben: auf der einen Seite die FDJ mit ihrer bereits im Kindergarten beginnenden Indoktrinierung, auf der anderen Seite seine Begeisterung für Popmusik aus dem Westen. Nach außen verhält Olaf sich regimekonform, doch zur Stasi hält er Abstand.

Zu einem zentralen Wendepunkt in Hintzes Leben wird der Vorabend zum 1. Mai 1984. Drei Tage vor dem Beginn seines Dienstes bei der „Nationalen Volksarmee“ reißt er betrunken eine Republikfahne vom Mast und wird gefasst. Fortan ist es ihm nicht mehr möglich, seinen Studienwunsch in der DDR zu erfüllen. „,Die Fahnen hingen überall, als wir nach dem Discobesuch die Straße entlangtaumelten. Ich habe an der vor dem Schuhgeschäft herumgezogen. »Scheißfahne!«‘ Alles, worauf er wütend war, manifestierte sich plötzlich in dieser Fahne. Sie löste sich aus der Halterung. Der Mast brach. Das hatte er nicht gewollt.“

In der DDR sind Systemtreue und der Eintritt in die Partei der einzige Weg zum Abitur und später zu einem Studienplatz und den damit verbundenen Privilegien und beruflichen Möglichkeiten. Ein derartiger Weg steht Hintze nach seiner ,Entgleisung’ nicht mehr offen. Die Enge der Zensur, die Verunsicherung durch die Stasi, die negativen Auswirkungen der Planwirtschaft und das daraus resultierende Streben nach Freiheit nähren Fluchtgedanken in dem jungen Mann. Besonders die kulturelle Beschneidung durch die Partei- und Staatsorgane ist ihm ein Dorn im Auge. Die Sehnsucht, endlich alle Bücher lesen, alle Platten hören, alle Konzerte besuchen zu können, mündet schließlich in der Flucht nach Westdeutschland.

Susanne Krones (re-)konstruiert, aufbauend auf Gesprächen mit ihrem Ko-Autor und nach Sichtung zahlreicher Ton-, Bild- und Textzeugnisse, Hintzes Fluchtgeschichte in der dritten Person. Die Schilderung der Flucht setzt sie dabei ins Präsens und erhöht so die Spannung, während die Kapitel über Hintzes Leben in der DDR in der Vergangenheitsform gehalten sind. An viele Ereignisse seiner Flucht und an Details seiner Kinder-, Jugend- und später auch Studentenzeit erinnert sich Olaf Hintze erst mit Hilfe seiner Eintrittskartensammlung, der Songlisten auf seinen Kassetten oder ausgewählter Passagen aus Stefan Zweigs Werk. In kurzen Abschnitten wird Hintze direkt zitiert und kommt so selbst zu Wort.

„Tonspur“ folgt den musikalischen Spuren Olaf Hintzes. Den Autoren gelingt es, sowohl politische Zusammenhänge und geschichtliche Ereignisse als auch persönliche Erlebnisse und Emotionen des Protagonisten mit Musik zu kombinieren. Dabei konstruieren sie Zusammenhänge, um die Aussagen und Erlebnisse zu unterstreichen, zu bekräftigen und in einen Verstehens- und Bedeutungszusammenhang einzubetten. Während einige Bezüge plausibel erscheinen, wirken andere überkonstruiert, zum Beispiel: „Ist das die richtige Entscheidung? In diesem Alter für einen solchen Schritt alle Sicherheiten aufzugeben? ,Liebe wird aus Mut gemacht, denk nicht lange nach, wir fahren auf Feuerrädern Richtung Zukunft durch die Nacht.’“ Obwohl Hintze – er hat nach seiner Flucht mittlerweile in Bayern Fuß gefasst – seine sichere Beamtenstelle bei der Polizei in München aufgibt und ein Wagnis eingeht, gerät die Verknüpfung mit einer Textzeile aus Nenas „Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann“ doch zu gewollt – als ob die Popmusik bereits die passenden Antworten auf zentrale Lebensfragen bereithielte. Gleichwohl ist die breite Kenntnis in verschiedensten Musiksparten und -genres beeindruckend, auch Hintzes Gabe, seine Faszination für Klang und Akustik gekonnt zu transportieren.

Von hoher Bedeutung für Hintze ist das Buch „Die Welt von Gestern“ von Stefan Zweig, welches er mehrfach gelesen hat – sein ‚Lebensbuch‘. Die vom Autorenteam gewählten Zitate aus diesem Werk sind eng verflochten mit dem Geschehen und dem (Freiheits-)Gedanken und waren einer der Schlüssel zur Erinnerung Hintzes an Ereignisse, die bereits 25 Jahre zurückliegen. Mitunter wirkt es aber auch so, als seien bestimmte Erinnerungen direkt auf ein aussagekräftiges Zweig-Zitat hingeschrieben worden.

Im Zentrum des ersten, deutlich umfangreicheren Teil des Buches steht Hintzes Flucht, die mit einem gemeinsamen Urlaub mit Freunden Anfang August 1989 beginnt und am 21. August mit seiner Ankunft in Wien vorerst endet. Die Kapitel über diese Ereignisse wechseln sich mit Rückblicken auf Hintzes Vergangenheit ab. Auf diese Weise erfährt der Leser nach und nach mehr über die Beweggründe der Flucht, Hintzes Kinder- und Jugendzeit, seine ersten Gehversuche im Bereich der Radio- bzw. Elektrotechnik und seine Zeit bei der NVA. Der Fokuswechsel erhöht die Spannung der phasenweise dramatischen Fluchtplanung und -umsetzung und lässt den Leser gleichzeitig tiefer in Hintzes Leben, aber auch das Leben in der DDR eintauchen. Während der Zeit in Sopron, dem Ausgangspunkt der Flucht, verliert Hintze sein Zeitgefühl, registriert die Welt um sich herum nur phasenweise. Seine akribische Planung, der erste fehlgeschlagene Fluchtversuch, seine Ängste bei der Ausführung seines Unternehmens sind nachvollziehbar und temporeich inszeniert.

Der zweite Teil des Buches schildert Hintzes Leben in der Freiheit. Seine Gier nach teilweise schwer zugänglichen Werken der Literatur und Musik, sein Wunsch nach Kulturveranstaltungen wie Konzerten und Opernbesuchen kann er nun endlich befriedigen. Er besucht Konzerte von großen Künstlern, u. a. Miles Davis, John McLaughlin, auch Herbert Grönemeyer oder Depeche Mode. Er genießt und bewertet unterschiedliche Operninszenierungen und kann seine Vorliebe für Akustik und Klang endlich ausleben. Dieser zweite Teil liest sich eher als Nacherzählung und verflacht im Vergleich zum ersten Teil sowohl inhaltlich als auch im Schreibstil.

Wie umfangreich die Recherche und die Rekonstruktion von Hintzes Leben waren, belegen die Schwarz-Weiß-Fotografien im Buch. Der geschilderten Tonspur wird somit eine Bildspur hinzugefügt, die neben Portraitfotos aus der Kindheit und Jugend die Fülle der besuchten Konzerte, die gebauten Radiogeräte und die von Hintze zusammengestellten und genau dokumentierten Kassetten zeigt. Abgerundet wird das Buch durch Literaturhinweise zum Thema DDR, eine Zeitleiste der Ereignisse, ein Glossar mit Begriffserklärungen und einen Soundtrack der den Kapiteln zugrundeliegenden Musiktitel. Auf der Internetseite lassen sich alle Titel dieses Soundtracks nachverfolgen und hören, auch findet sich eine genaue Auflistung aller Titel, die Hintze auf seinen Kassetten gesammelt und über seinen Piratensender seiner Hörerschaft zugänglich gemacht hat.

Das Buch „Tonspur“ geht über die Schilderung einer Person hinaus, die Teil der Fluchtbewegung aus der DDR im Jahr 1989 war. Hintzes persönlicher Blick auf die Geschichte, seine Interpretation der Ereignisse und seine Liebe zur Popmusik, die er politisch, ästhetisch und künstlerisch analysiert, erlaubt die Verschmelzung der Wendegeschichte mit einem Zeitzeugenbericht, der gleichzeitig als Erzählung mit subtilem Zeitgerüst daherkommt. Die stellenweise vorhandene Überkonstruktion der Erzählung durch offenbar willkürliche Verknüpfungen von Erinnerungsanlässen und tatsächlichem Geschehen ist jedoch problematisch. Es erschließt sich auch nicht recht, warum Krones mitunter mit Mutmaßungen arbeitet, wie eine konkrete Situation sich dargestellt haben könnte: Als Leser fragt man sich an solchen Stellen, wie sich denn der Ko-Autor zu diesen Annahmen positioniert – schließlich könnte er als Einziger eine belastbare Auskunft geben. Zudem sei nicht verschwiegen, dass zum tieferen Verstehen des Werks Vorwissen im Bereich der ‚historischen‘ Popmusik und in Bezug auf Hintzes ‚Lebensautor‘ Stefan Zweig benötigt wird. Es ist zu bezweifeln, dass Jugendliche heute wirklich ein derartig breites Vorwissen mitbringen. „Tonspur“ kann man als stellenweise sehr spannende Erzählung lesen und zugleich als Dokument eines Zeitzeugen, was den Text nicht nur für interessierte Jugendliche und junge Erwachsene lesenswert macht; als Zeitdokument kann der Text zudem zu einer Auseinandersetzung mit der jüngeren (deutschen) Geschichte weiteren Anlass geben.

Leseprobe