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Bach, Tamara:
Marienbilder
Hamburg: Carlsen 2014
133 Seiten
€ 13,90
Kindle Edition: € 9,99
Jugendbuch ab 14 Jahren

 

Bach, Tamara: Marienbilder

Was wäre, wenn …

von Nadine Bieker (2014)

Tamara Bachs „Marienbilder“ ist ein Roman in fünf Möglichkeiten. Fünf Möglichkeiten, wie Mareikes Leben weiter gehen könnte. Fünf Möglichkeiten, an deren Ende immer die Sehnsucht bleibt. Fünf Möglichkeiten, was passiert sein könnte, nachdem Magda, Mareikes Mutter, gegangen ist.

Mareike ist sechzehn und es ist Donnerstag. Eigentlich ist es ein Donnerstag wie jeder andere auch, nur dass an diesem Donnerstag Mareikes Mutter gegangen ist. Sie hat ihre Sachen gepackt und ist ohne jede Nachricht verschwunden. Mareikes Geschwister und ihr Vater entscheiden, zunächst zu schweigen: Vielleicht kommt sie ja bald wieder. Sie tut es nicht. Mareike geht auf Partys, weil ihr Bruder Frank gesagt hat, sie solle gehen, sie könne ja nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen. Also geht sie zu Gregors Party und bleibt, weil sie nicht müde ist. „Ich werde ihn so lange küssen, bis ich müde bin, bis ich nach Hause gehen kann“. Als dann zwei Wochen später Mareikes Periode ausbleibt, ist ihre Mutter immer noch nicht wieder da. Mareike ist womöglich schwanger und überfordert, fühlt sich allein gelassen und konstruiert, was passieren könnte …

„Der Zug kommt gleich“

Mareike steht am Bahnhof und Gregor ist auch da, mit seiner Ex, die vielleicht wieder seine Freundin ist. Mareike fährt zu Nadine, ihrer großen Schwester. Nadine, die irgendwie so weit weg ist. Deren Sehnsucht ein Auto hat und geheim ist, weil sie echt ist. In der Uni lernt Mareike einen jungen Mann kennen, als sie auf Nadine wartet, die Seminare hat: Eskapismus. Vielleicht ist der junge Mann Robin. Robin ist Mareikes Sehnsucht. Er ist der Junge, „mit dem ich bei jedem Ausflug zusammen gegangen bin, dem ich danach nur noch einmal im Freibad begegnet bin und erst da begriffen habe. Ich habe ihn Robin genannt.“ Mareike fährt weiter zu Ellen, dann zu einer Nenntante, von der sie wissen will, wie sich ihre Eltern kennengelernt haben. Anschließend fährt sie weiter zu ihrer Großmutter Marianne, der Mutter ihres Vaters.

Neben ihrer eigenen erzählt Mareike so auch Magdas und Mariannes Geschichte. Wie es gewesen ist, als Magda ihren Mann Günther kennengelernt hat. Wie sie schwanger gewesen ist mit Frank, bevor sie Günther kennengelernt hat. Wie sie dann wieder schwanger gewesen ist, Jahre später. Wie Magda an dem einen Donnerstag im Auto nebenan vor der Ampel jemanden gesehen hat, der sie an ihre Sehnsucht erinnert hat: Magdas Sehnsucht hat rote Haare.

„Manchmal kommt der Zug zu spät“

Mareike steht am Bahnhof und Gregor ist auch da, fährt auch mit dem verspäteten Zug, aber Mareike schläft ein. Der Schaffner weckt sie an der Endstation. Hier wollte sie nicht hin, und so wartet sie am Bahnhof auf den nächsten Zug. Als auf dem gegenüberliegenden Gleis ein Zug einfährt, sieht sie ihre Mutter im Bordrestaurant des Zuges und rennt los. Zwar erwischt sie den Zug noch, aber ihre Mutter ist nicht mehr da oder ist gar nicht da gewesen. Wieder wartet Mareike auf ihren Zug.

Mareikes Großmutter liegt im Altenheim. Ihr Sohn, Mareikes Vater war noch ein Kleinkind, als Erwin, Mariannes Mann, nach sechs Jahren aus dem Krieg wiederkam. Als Mareike Marianne besucht, ist diese verwirrt, verwechselt Mareike immer wieder mit Magda, fragt, ob der Krieg vorbei sei. Marianne hat nicht viele Erinnerungen behalten können, als sie ins Altenheim gezogen ist. Aber die kleinen Bildchen, die sie Mareike zeigt, die mit der Maria, die hat sie behalten: Marienbildchen mit der Mutter Gottes.

„Manchmal fällt ein Zug aus“

Mareike steht am Bahnhof und Gregor ist auch da, spricht sie an, ob alles in Ordnung sei, er habe „das“ von ihrer Mutter gehört. Mareike geht nach Hause und macht einen zweiten Test, ruft die Frauenärztin an. Die fragt sie, ob sie mit ihrer Mutter darüber reden könne. Mareike sucht nach einem Zeichen, weiß nicht, was sie tun soll und wäre gerne religiös, denn dann „wäre ungeborenes Leben heilig“. Dann wäre vieles anders: „Meine Mutter wäre nicht weg, meine Mutter wäre da, wäre nicht so gottlos, Mann und Kinder zu verlassen.“ Mit dem Vater kann sie nicht sprechen, der schweigt, seit Magda weg ist, liegt auf dem Sofa, isst Kekse und trinkt Milch. „Und dann stehe ich wieder am Bus, warte, da tut es weh, da wird meine Hose warm und nass, aber anders als sonst.“ Als Mareike wieder gesund ist, sie sich körperlich davon erholt hat, dass sie ihr Kind verloren hat, geht sie auf eine Party, der Vater sagt, sie solle dahin gehen, der Bruder sagt das auch. Gregor ist auch da, er hat sturmfrei, also gehen sie zu ihm.

Magdas Sehnsucht hat rote Haare. Nadines Sehnsucht hat ein Auto. Mareikes Sehnsucht hat sich Robin nennen lassen. Alle drei Frauen haben Sehnsucht nach einem Mann, den es so nicht gibt – oder vielleicht doch. Den es so für sie nicht gibt, weil sie sich nicht trauen, weil sie sich anderen hingegeben haben, die sie gar nicht wollten. Immer, wenn ihnen jemand wie ihre Sehnsucht erscheint, geben sie sich diesem hin und werden enttäuscht. Sie alle haben Sehnsucht nach Halt, Liebe und einem anderen Leben. Magda ist geflohen, weil Günther nicht die Sehnsucht mit den roten Haaren ist. Mareike nennt immer wieder jemanden Robin, er ist aber dann aber doch nie.

„Manchmal kommt ein anderer Zug“

Mareike steht am Bahnhof. Manchmal kommt ein Zug, der nach Süden fährt. Dahin, wo es warm ist, wo andere Urlaub machen. Wo man schwanger sein, ein Kind bekommen und zu zweit eine Familie sein kann. Und dann kommt jemand, der Vater sein möchte, den man Robin nennen kann, mit dem alles schön ist, wo alles schön ist – oder auch nicht.

Tamara Bachs neuester Roman „Marienbilder“ ist ein Roman mit vielen Möglichkeiten. Bach lässt Mareike ihre eigene, die Geschichte der Mutter und die der Großmutter erzählen. Oftmals erkennt man aber erst nach vielen Zeilen, wessen Geschichte gerade erzählt wird. Die Erzählerin springt von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück, und niemals kann man sich sicher sein, ob das, was Mareike gerade erzählt, wirklich geschieht oder doch nur ihrer Vorstellung entspringt. Sie versucht, die Geschichte ihrer Eltern, ihrer Mutter und ihrer Großmutter zu rekonstruieren, um sich selber zu erklären, was gerade in ihrem Leben geschieht.

Durch kurze Sätze, durch Floskeln und Anekdoten, durch unvollständige Sätze, durch Aneinanderreihungen von Nebensätzen schafft es Bach, den Leser viel wissen und trotzdem eine Distanz aufkommen zu lassen. Mareike wirkt teilnahmslos, ihre Erzählung beinahe beschreibend und apathisch, nüchtern und dadurch für den Leser viel drastischer, emotionaler und vielleicht hoffnungsloser als für Mareike selbst. Mareike sagt, sie wisse nichts, nichts über die Geschichte ihrer Eltern, über ihre Mutter, über ihre Schwester und erzählt doch mehr, als sie wissen kann.

Bach wählt eine sehr poetische Sprache, sie schreibt in Bildern, in Metaphern, in Symbolen. Ihre Sätze sagen oft mehr als das eine, das Konkrete. Sie schafft Leerstellen, die jeder selbst füllen muss, und somit gibt es wieder neue Möglichkeiten. Immer wieder geht Mareike die Varianten durch, beginnt vorne und verändert die Geschichte jedes Mal ein bisschen. Was sich sprachlich immer wieder wiederholt, lässt jedoch inhaltlich immer ein anderes Ende zu.

Schafft Mareike viele Was-wäre-Wenns, wie ihre Geschichte weiter gehen könnte, so wiederholt sich im Gegenteil die tatsächliche Familiengeschichte immer wieder: Frauen, die schwanger werden von jemandem, der nicht der Vater sein wird, Frauen, die Sehnsucht haben nach etwas, das viel mehr ist als dieser eine Mann, der rote Haare hat, der ein Auto hat, der sich Robin nennen lässt. Eine Familie, in der die Großmutter sich an der Religion festhält, weil es das Einzige ist, was geblieben ist, in der die Enkeltochter sich wünscht, religiös zu sein, um sich festhalten zu können. Immer wieder wird der Roman von religiösen Motiven durchleuchtet, werden Gesten und Floskeln aufgerufen, die Halt geben könnten, sollten, aber am Ende doch nur Gesten und Floskeln bleiben. Die Familienmitglieder schaffen es nicht, die Realität aufzuhalten, obwohl sie alle gerne aus ihr ausbrechen möchten. Nadine besucht Seminare über Eskapismus, Realitätsflucht. Mareike muss dafür keine Seminare belegen, es ist ihre Realität, aus dieser zu entfliehen.

„Oder“

Und zuletzt steht Mareike nicht am Bahnhof, Gregor ist auch nicht da. Es ist wieder der Tag, an dem Magda Günther erzählt, dass sie schwanger sei. Und dieses Mal entscheidet sie sich gegen Mareike.

„Marienbilder“ ist ein Roman über all die Möglichkeiten, über all die Was-wäre-Wenns. Ein Roman, der Sehnsucht aufkommen lässt nach der einen Entscheidung, die getroffen werden sollte, getroffen werden müsste. Es ist ein Roman, mit dem man nach dem ersten Lesen noch lange nicht fertig ist, der zum Nachdenken anregt und den Wunsch aufkommen lässt, sich zu entscheiden.

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