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Elf Fragen an Kirsten Boie

Kirsten Boie - „Bestimmt wird alles gut“ (Interview am 21.10.2016 auf der Frankfurter Buchmesse)

© Indra Ohlemütz
1 Warum haben Sie „Bestimmt wird alles gut“ geschrieben?

Ich lebe in einem kleinen Ort in der Nachbarschaft von Hamburg, und bei uns sind 2013 die ersten syrischen Flüchtlingsfamilien angekommen. Mein Mann und auch viele meiner Freunde haben sich da von Anfang an sehr engagiert. So war ich dann auch involviert und kannte bald viele Flüchtlinge – Familien, Einzelschicksale, was dazu führte, dass ich 2015 (also schon ein dreiviertel Jahr, bevor es so richtig „losging“) diese Geschichte aufschreiben wollte. Es sollte einfach jedem klar werden, dass es nicht einfach aufhören würde, denn niemand konnte doch ernsthaft glauben, solange die Situation in der Welt so ist, wie sie ist, dass wir nicht weiterhin mit Flüchtlingen zu tun haben würden! Ich fand es einfach wichtig, Kindern zu erklären, was diese hier ankommenden Menschen hinter sich haben und wollte ihnen die Gründe erläutern, warum sie zu uns fliehen. Ich wollte mir aber keine Geschichte ausdenken, weil meine Erfahrung ist, dass authentische Geschichten ganz anders von Kindern rezipiert werden als erfundene. Auf der anderen Seite musste ich aber ganz genau darauf achten, nicht von allzu schrecklichen Schicksalen zu berichten: Mein Mann beispielsweise stand mit einer Familie mit drei Kindern in Kontakt, die zwei Kinder auf dem Mittelmeer verloren hat! Das wäre zu viel gewesen für LeserInnen im Grundschulalter. Ich denke, so, wie ich es jetzt erzählt habe, ist es gerade noch erträglich: Erzählt wird ja von einer Familie mit vier Kindern, die diese Flucht alle überstehen. Und diese Familie hatte ich im Vorfeld getroffen und die beiden älteren Kinder haben mir dann von ihrer Flucht erzählt.

2 Wer oder was hat Ihnen beim Schreiben das Leben gerettet?

Also ich schreibe jetzt ja seit über 30 Jahren und natürlich erlebe ich manchmal das, was man eine Schreibblockade nennt, weil das auch einfach dazu gehört – und inzwischen schreibe ich schon so lange, dass es mich nicht mehr beunruhigen kann (lacht). Was mir in solchen Phasen dann aber tatsächlich das Leben rettet, ist zum Beispiel, meinen Keller aufzuräumen. Es gibt ja immer so viele Aufgaben, die beim Schreiben liegenbleiben und mein Keller kann dann auch mal dramatisch aussehen. Und immer wenn ich jetzt an den Punkt einer Schreibblockade gelange, dann sage ich mir selber, dass das überhaupt nicht schlimm ist, weil ich ja ruhig auch mal den Keller sortieren könnte. Es ist in solchen Momenten eine große Hilfe, sich nicht darauf zu konzentrieren, dass man die eigentliche Arbeit, also das Schreiben, nicht hinbekommt, sondern stattdessen eine Sache macht, die einem genauso sinnvoll erscheint. Und wenn das dann auch noch etwas ist, was den Kopf nur minimal fordert, dann hat das Gehirn dabei sogar noch genug Kapazitäten frei, im Hintergrund weiterzulaufen. Das ist wirklich immer meine Standardrettung.

3 Was würden Sie LehrerInnen zu diesem Buch sagen wollen? – Was sollten sie auf gar keinen Fall damit im Unterricht anstellen?

Es wäre wichtig, den SchülerInnen viel Freiraum zu lassen, und nicht ihre Aussagen, die uns vielleicht nicht gefallen, komplett abzuschmettern. Man hat sicherlich in der Klasse auch ein paar Kinder sitzen, die zuhause Dinge über Flüchtlinge hören, die wir uns nicht wünschen und die so Sachen nachplappern wie „Naja, die kommen doch jetzt nur alle, um sich bei uns in die soziale Hängematte zu legen“ oder „Das sind jetzt vielleicht alles Terroristen!“. Es ist dann erst mal ganz wichtig, das ernst zu nehmen und zu versuchen, hier in einen Dialog mit den Kindern zu kommen, also z.B. „Jetzt guck doch mal, was mit diesen Kindern in der Geschichte ist, glaubst Du, dass das bei denen auch so ist? Warum glaubst Du wohl, warum diese Kinder gekommen sind?“. Ich habe das jetzt ein paar Mal bei Lesungen erlebt, dass von den zuhörenden Kindern derlei Sachen gesagt wurden; und es wundert mich auch nicht.

4 Finden Sie das Buch auch geeignet, um mit Kindern, die Fluchterfahrungen sammeln mussten, zu arbeiten?

Ich würde sagen, dass das Buch sich hier ganz gewiss eignet, ich bekomme dazu auch vielfach Rückmeldungen von PsychologInnen oder auch LehrerInnen. Allerdings bin ich mittlerweile vorsichtig, was sehr große Lesungen betrifft. Davon habe ich nun schon einige gehabt, weil das die LehrerInnen so gerne möchten, mit teilweise bis zu 500 Kindern, teilweise Integrationsklassen, teilweise Klassen ohne Flüchtlinge, ganz bunt zusammengewürfelt. Hier ist der große Rahmen dann schwierig, weil beispielsweise die Kinder mit Fluchterfahrung und die Kinder ohne ganz unterschiedliche Fragen an diese Geschichte und an mich haben – und das kann man bei einer Großveranstaltung niemals auffangen bzw. man kann den unterschiedlichen Zugängen und Perspektiven und auch Sprachständen nicht gerecht werden. Und das ist ja gerade bei der Thematik sehr frustrierend! In einem Klassenverband hingegen, insbesondere wenn die LehrerIn hier auch einen sensiblem Blick besitzt und dem jeweiligen Kind beispielsweise die Möglichkeit einräumt, auch von sich selbst zu erzählen – aber nur, falls es das auch wirklich möchte! –, kann das Buch einen sehr geeigneter Erzählanlass darstellen! Ich würde in dem Zusammenhang das Kind fragen „Wie fandest Du denn eigentlich diese Geschichte?“ und nicht „Erzähl doch jetzt mal Deine eigene Geschichte!“. So bleibt ihm nämlich die Möglichkeit, wenn es das denn möchte, davon zu berichten, ob etwas ähnlich oder anders war. – Ich bekomme auch manchmal von LehrerInnen Briefe, in denen sie mir berichten, dass sie beispielsweise einen Flüchtlingsjungen in der Klasse haben, er seit zwei Jahren bei ihnen ist und noch nie etwas erzählt hat und für den, als diese Geschichte in der Klasse gelesen wurde, es kein Halten mehr gab und er– zum ersten Mal! – von seiner eigenen Erfahrung sprechen konnte.

5 Welche Schräubchen hätten für ein „Happy End“ gedreht werden müssen? Und welche wären nicht gegangen, ohne unrealistisch zu werden?

Ich finde, es handelt sich hier doch um eine Geschichte mit einem phänomenalen Happy End (wenn man sich die kindlichen Figuren anguckt)! – Also für ein „wirkliches“ Happy End müsste man natürlich die deutschen Gesetze ändern, da müsste der Vater problemlos wieder als Arzt arbeiten können, ohne vorher eine C2-Sprachprüfung zu absolvieren, für die es überhaupt nicht in der benötigten Zahl Vorbereitungskurse gibt. Denn viele Ärzte etc. scheitern ja an der sog. „Gleichwertigkeitsprüfung“ nicht deshalb, weil sie diese nicht schaffen, sondern sie kommen gar nicht erst bis zu der Sprachprüfung, und zwar aus Mangel an Sprachkursen. So gibt es jetzt beispielsweise diese ganzen Kurse für das Level A2 – und das ist auch gut und nötig! Aber wenn jemand einen qualifizierten Beruf hat, dann scheitert er aufgrund dieses Mangels: weil die einzige Alternative wäre, sehr teure Sprachkurse an privaten Instituten zu absolvieren und das kann er oder sie sich natürlich nicht leisten.

6 Wie ist „Bestimmt wird alles gut“ zu verstehen? Optimistisch? Zynisch?

Das ist sehr, sehr optimistisch gemeint, überhaupt nicht zynisch! Also sicherlich ist es eine andere Sache, wie sich die Geschehnisse in der Welt außerhalb des Romans entwickeln, aber für die Geschichte des Buches ist es eine ganz zuversichtliche Botschaft. Das höre ich auch von meinen kindlichen LeserInnen: Kinder interessieren sich ja primär für die Kinder in der Geschichte, und dann lese ich in ihrer Post häufig, was sie an der Geschichte (und eben den kindlichen Figuren) so positiv fanden. Und das Wichtigste, was hier genannt wird, ist, dass die Figur nun endlich eine beste Freundin hat, integriert ist, die Sprache lernt und Freundschaften schließt. Kinder verstehen das Ende als hoffnungsvoll.

7 Frau Boie, wie muss man sich das vorstellen? Sie sind unheimlich produktiv, Sie haben nicht „das eine Thema“, an dem sie sich abarbeiten, Sie schreiben Bücher, die unterhalten, die helfen, die sensibilisieren, Sie engagieren sich „außerdiegetisch“… Wie

Also Strategien habe ich keine, ich bin nämlich ein sehr wurschteliger Mensch! (lacht) Mir ist es wichtig, auf Dinge, denen ich in meinem Leben begegne, irgendwie auch zu reagieren, das geht ja ganz vielen Menschen so. Dann kommt hinzu, dass ich jetzt in einem Alter bin, in dem die Aufgaben, die einen sonst im Alltag binden – sowohl zeitlich, als auch emotional und psychisch, – nicht mehr so vorhanden sind, also beispielsweise die Erziehung von Kindern. Das kostet unendlich viel Zeit und auch sehr viel psychische Energie, nicht nur in der Pubertät, sondern auch in der Zeit davor, da gibt es dann Kümmernisse oder Krisen, in denen man sich fragt „Schaffen wir das?“. Und in solchen Phasen hat man dann weniger Zeit für andere Sachen, das ging mir auch so, da hab ich dann ‚neben den Kindern’ nur geschrieben, und mehr habe ich in der Zeit auch nicht gemacht. Das Schreiben war da ein schöner Ausgleich, weil ich das einfach so gerne mache. Und gerade wenn irgendetwas schwierig ist, dann ist es großartig, wenn man dann ein Gegengewicht hat und z. B. schreiben kann. Und jetzt ist die Zeit, wo ich die Kraft dafür und die Freude daran habe, neben dem Schreiben auch noch viele andere Sachen machen zu dürfen und ich bin unendlich dankbar, dass mein Leben so ist, wie es ist! Das hätte ich nie und nimmer erwartet!

8 Sie geben in der Süddeutschen Zeitung Erziehungsratschläge – wie ist es dazu gekommen?

Das war völlig schräg: Also zunächst einmal möchte ich das auf keinen Fall als Erziehungsratschläge verstanden wissen (lacht)! Als damals die Anfrage dazu kam, habe ich erst einmal Nein gesagt. Ich bin keine Expertin und ich finde auch Ratschläge in der Regel heikel. Ich denke immer, dass man ganz viel wissen muss, bevor man einen Ratschlag gibt, und selbst dann kann es sehr daneben gehen. Ich bin da eher vorsichtig… und dann ein Ratschlag, in der Zeitung, mit 1000 Zeichen Vorgabe, was ja bedeutet, dass man nichts ein wenig komplexer beantworten kann! Sie können nicht sagen „Einerseits…“ oder „Aus meiner Erfahrung gab es mal den und den Fall…“ und man kennt auch die Menschen nicht, die das fragen. Außerdem würde das, was Sie raten, bei unterschiedlichen Menschen zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führen – ich wollte es also wirklich nicht machen. Und ich habe auch ziemlich lange durchgehalten. Dann hat die SZ-Redaktion aber erklärt, dass es eben nicht um Ratschläge ginge, sondern darum, etwas vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen zu schreiben, und so habe ich dann zugestimmt (lacht).

9 Wenn Sie sich „heutige“ Kindheit in Deutschland vorstellen – gibt es ein Thema, dass Sie gerade jetzt besonders elektrisierend empfinden?

Was mich immer beschäftigt hat und immer beschäftigen wird (und was dann auch in meinen Büchern immer mal wieder auftaucht), ist die Auseinanderentwicklung der Gesellschaft. Als ich anfing zu schreiben, hatte ich bereits Erfahrungen an einer sogenannten Brennpunkt-Gesamtschule gesammelt, nachdem ich zuvor am Gymnasium unterrichtet hatte, und war einfach völlig erschüttert, weil Welten zwischen den Kindern lagen. Ich hatte damals keine Vorstellungen davon, dass es so etwas gibt, dass viele Kinder bei uns so leben müssen. Und die Kinder können ja überhaupt nichts dafür! Das ist mittlerweile über dreißig Jahre her und die Entwicklung ist noch viel weiter auseinander gegangen. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass die eine Hälfte der Gesellschaft, sagen wir: das Bildungsbürgertum, mit der anderen Hälfte kaum mehr in Berührung kommt, zumal sie oft auch in unterschiedlichen Stadtteilen leben: Die SchülerInnen werden ja bereits nach der vierten Klasse getrennt. Das ging mir übrigens persönlich auch so: Ich habe damals in der Gesamtschule in diesem schwierigen Stadtteil eine Welt kennengelernt, von der ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass sie existiert! Anfangs dachte ich, dass ich das nie schaffen würde. Und nachher habe ich sie alle geliebt, es waren einfach wunderbare Kinder; also nicht alle natürlich, aber das waren am Gymnasium ja auch nicht alle (lacht). Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass PolitikerInnen oder EntscheidungsträgerInnen in der Gesellschaft oft gar keine Vorstellungen davon haben, wie es in dieser Realität aussieht, einfach weil ihnen die Erfahrung fehlt. Nehmen wir zum Beispiel den Film „Fack ju Göhte“ – das ist doch keine Satire! Das ist ein sehr realistischer Film, den jemand gemacht hat, der wusste, worüber er erzählt – von der verrückten Handlung abgesehen. Aber diese Jugendlichen sind ja tatsächlich so! Und das ist nicht komisch, das ist tragisch und da muss etwas getan werden.

10 Wie können LehrerInnen helfen, den Integrationsprozess der geflüchteten Kinder zu unterstützen (fernab von Leistungsstandards) bzw. wo bedarf es des Sensibilisierens der Lehrkräfte?

Ich denke einfach, dass man sich jedes Kind ganz genau anschauen und sich an den Bedürfnissen des Kindes orientieren muss. Man sollte vielleicht die anderen Kinder darauf vorbereiten, dass ein Kind mit Fluchterfahrungen in die Klasse kommt und ihnen vermittelt „Ihr könnt da ganz viel machen und helfen!“ oder „Auch wenn das jetzt nicht das Kind ist, mit dem ihr am allerliebsten spielen wollt, nehmt ihn oder sie mal mit in eure Gruppe.“ oder „Jedes Mal wenn ihr rausgeht, ihr drei oder ihr vier, dann nehmt sie oder nehmt ihn mal mit. Auch wenn sie nur daneben steht, holt sie immer und nehmt sie mit. Zeigt ihr, dass ihr sie dabei haben wollt.“ Zugehörigkeit ist also ganz wichtig. Auch muss man den Kindern erklären, dass sie sich nicht wundern sollen, wenn das Kind mit der Fluchterfahrung mal schneller wütend wird, vielleicht auch mal zuhaut! Diese Kinder haben so schlimme Dinge erlebt, das geht so schnell aus den Köpfen nicht heraus, sondern wird ein Leben lang in ihren Köpfen bleiben. Deshalb muss man den anderen Kindern vermitteln: „Zu dem jetzigen Zeitpunkt ist das noch ganz frisch. Da müsst ihr Euch sagen, dass das normal ist, nach dem, was die erlebt haben.“

11 Gibt es Romane, die Ihnen biographisch sehr nahe stehen bzw. verarbeiten Sie auch manchmal (noch) eigene Wunden/Diskriminierungen?

Also ein bisschen steckt von mir in allen Romanen – sogar in Seeräuber Moses! Es gibt aber zwei Bücher, die spielen in der Zeit meiner eigenen Kindheit und Jugend. Eines heißt „Monis Jahr“ und spielt im Jahr 1955, die Protagonistin ist fünf Jahre älter als ich, das spielt aber keine Rolle für den Erinnerungsprozess. Das andere Buch heißt „Ringel, Rangel, Rosen“ und spielt 1962, die Figur ist ungefähr so alt wie ich, vielleicht ein bisschen älter. Und bei diesen beiden Romanen habe ich mich viel stärker mit meinen eigenen Erinnerungen auseinandergesetzt, als ich das bei meinen anderen Geschichten tue. Also mit allem, was in der Zeit meiner Kindheit eine Rolle gespielt hat und somit entscheidend und prägend für mein Leben war. Zu Recherchezwecken konnte man zwar auch damals schon googeln, aber da war das Internet noch nicht so ‚prall‘, wie es jetzt ist, da habe ich noch zusätzlich Archive benutzt. Aber es war für mich einfach erstaunlich, dass mir so viel wieder aus dem Alltag meiner Kindheit eingefallen ist, zum Beispiel Ausdrücke, die man verwendet hat, Dinge, die man gegessen hat – und darüber habe ich mich sehr gefreut, auch weil ich den Eindruck hatte, dass es aus dieser Zeit nur wenig Alltags- und Mentalitätsgeschichtliches gibt. Den Alltag unserer jetzigen, medial völlig überfrachteten Zeit wird man in fünfzig Jahren detailliert auch in Filmen, den Postings in sozialen Netzwerken etc. nachvollziehen können – aber das gilt für die damalige Zeit eben nicht. Außerdem bedeuteten die beiden Werke für mich selbst eine Form der Auseinandersetzung, also der eigenen Kindheitsverarbeitung – und diese Romane sind mir deshalb von allen Büchern, die ich je geschrieben habe, am nächsten.