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Marie-Aude Murail:
Über kurz oder lang
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Frankfurt/M.: Fischer Schatzinsel 2010
224 Seiten
€ 12,95
Ab 14 Jahren
Jugendbuch

Murail, Marie-Aude: Über kurz oder lang

Vom Träumen und Schäumen

von Robert Schwettmann und Ute Weyand (2010)

„,Ein Praktikum!’ rief Monsieur Feyrières. ‚Was sind das denn schon wieder für Erfindungen? Die Kinder können keine drei korrekten Sätze aneinanderreihen, aber müssen ein Praktikum machen. Und überhaupt: Was für ein Praktikum?’“

Das ist auch die große Frage, die sich der 14-jährige Louis Feyrières stellen muss, als in der Schule ein Betriebspraktikum ansteht. Unmotiviert und desinteressiert berät er sich mit seiner Familie. Louis’ Vater, ein erfolgreicher Chirurg, traut seinen Ohren kaum, als er den pragmatischen Vorschlag der Großmutter vernimmt: ein Praktikum beim Friseur! „Meine Friseurin nimmt Lehrlinge. Ein Praktikant ist doch im Grunde auch nichts anderes.“ Was der Vater spöttisch belächelt und den Schulkameraden die Sprache verschlägt, scheint Louis jedoch gerade recht, und somit fällt der Startschuss für eine folgenschwere Praktikumswoche: Seine neuen Kollegen werden zu Mentoren und Freunden, der Salon wird zu seinem zweiten Zuhause, und Louis entdeckt sein bis dahin verborgen gebliebenes Talent – das Haareschneiden.

Am liebsten würde Louis Hals über Kopf eine Lehre im „Salon Marielou“ beginnen, doch seine Träume drohen an den Ansprüchen der Realität zu scheitern: Sowohl die väterliche Sorge um den eigenen Ruf und um die Zukunftsaussichten des Sohnes als auch die Schulpflicht legen ihm Steine in den Weg. Trotz all der Hindernisse kann sich Louis der Unterstützung der anderen Familienmitglieder, seiner Kollegen und sogar des verständnisvollen Schuldirektors sicher sein. Insbesondere Fifi, Marielous’ rechter Hand, der das Geschick des Jungen frühzeitig erkennt, kommt dabei eine besondere Rolle zu: Er steht zu seiner Ausgeflipptheit und Homosexualität und inspiriert Louis dadurch, seinen ‚eigenen Kopf’ haben und auch durchsetzen zu dürfen. Seine Jugend und den Kampf gegen Widerstände erinnernd, unterstützt und ermutigt er Louis bei der Verwirklichung seines Traums.

An ihrem forciert märchenhaften Ende gemessen, beginnt die Geschichte zunächst bemerkenswert unscheinbar, und ähnlich wie Monsieur Feyrières nimmt man eine skeptisch-abwartende Haltung ein: Alltäglich, normal, vorhersehbar, so wirken die Figuren und Ereignisse. Doch paradoxerweise liegt genau darin das Fesselnde dieses Buches. Durch das geschickte Spiel mit Klischees und Vorurteilen fühlt man sich – mal bestätigt, mal widerlegt – ertappt und beginnt zu schmunzeln. Nach und nach erfährt man mehr über die stereotypen Figuren: Warum sitzt Madame Marielou im Rollstuhl, wieso kommt die Angestellte Clara des Öfteren verheult zur Arbeit, was entwickelt sich zwischen Louis und der Auszubildenden Garance? Durch den Eintritt in diese neue (Berufs-)Welt erfährt Louis zum ersten Mal, was es bedeutet, „sein Kreuz zu tragen“, und entwächst mehr und mehr seinem behüteten Umfeld. Er erkennt aber auch, dass das Leben „nicht nur aus Schicksalsschlägen“ besteht, sondern auch „aus dem, was man will“, und beginnt, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.

In ihrem Jugendroman „Über kurz oder lang“ erzählt die Autorin Marie-Aude Murail („Simpel“) auf glaubhafte Weise vom Erwachsenwerden, den ersten Erfahrungen in der Liebe und einer angespannten Vater-Sohn-Beziehung. Louis muss sich vor dem Vater behaupten, sich von ihm abnabeln und für seine Träume kämpfen. Monsieur Feyrières ist im Gegenzug dazu gezwungen, sich von seinen eigenen väterlichen Vorstellungen und Plänen zu verabschieden und sein Kind neu kennenzulernen. Vor allem widmet sich Murail in ihrer Geschichte dem schwierigen Weg des Ich-Findungsprozesses, bei dem Louis die bisher wichtigste Lektion seines jungen Lebens lernt: Die eigene Zukunft ist nicht festgelegt, jeder kann sich selbst erfinden, auch wenn es dabei gilt, Hürden zu überwinden. Mag die Geschichte dabei auch komisch, bisweilen sogar parodistisch wirken, so beschränkt sich Murail jedoch nicht auf diese Aspekte. Glaubwürdig und ernsthaft setzt sie sich mit den Tücken der jugendlichen Identitätsfindung auseinander. Zudem versteht sie es, mit viel Witz und Gefühl sowohl die Gedankenwelt des Jugendlichen als auch die Ansichten der Erwachsenen zu schildern.

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