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Titelbild
Markus Berges:
Ein langer Brief an September Nowak
Berlin: Rowohlt Berlin 2010
208 Seiten
€ 18,95
Ab 16 Jahren
Junge Erwachsene

Berges, Markus: Ein langer Brief an September Nowak

Spiel mit der Identität

von Hanna-Lena Beck und Gianina Gentile (2011)

Nach ihrem Schulabschluss steigt die 19-jährige Betti Lauban in den Regionalzug, lässt die langweilige Durchschnittlichkeit ihrer Heimatstadt hinter sich und macht sich auf den Weg, ihre langjährige Brieffreundin in Monaco zu besuchen. Mehrere Jahre haben sie sich geschrieben – Betti, westfälisches Mauerblümchen, und September Nowak, monegassische Ballerina, die in einem Schloss residiert und ein Leben führt, von dem Betti nur träumen kann.

Die Realität trifft Betti wie ein Schlag, als sie September gegenübersteht: „Sie war fett. Ihr großes, farbloses T-Shirt spannte am Busen und an dem gewaltigen, schlaffen Bauch, der zu zwei Drittel unter dem Gürtel einer offenbar sonderangefertigten Jeans steckte.“ Nicht nur Septembers Äußeres, sondern deren ganze Identität stellt sich als ein großer Schwindel „der Fetten“ heraus. Zu alledem ist die vermeintliche September gar nicht beschämt über ihren Betrug, sondern eher belustigt über Bettis Naivität. Die macht sich auf, lässt zuerst September und dann Monaco hinter sich und begibt sich auf eine ereignisreiche Reise entlang der französisch-spanischen Mittelmeerküste.

Zunächst schließt sich Betti der verrückt anmutenden Deutschen Ingrid und deren erwachsenen Sohn Anders an, die Frankreich mit dem Wohnwagen bereisen. Mit der unkonventionellen Ingrid kann Betti sich treiben lassen und loslassen von der Enttäuschung durch September, die ihr Versprechen von Abenteuer nicht gehalten hat.

In Portbou, hinter der spanischen Grenze, trennen sich ihre Wege. Doch bald schon befindet sich Betti in neuer Gesellschaft: Sie schließt sich wieder an, diesmal einer kleinen Familie. So landet sie an der französischen Atlantikküste, wo sie mit Christine, deren Mann und ihren Kindern in einem kleinen Häuschen wohnt. Doch Betti ist nicht mehr Betti, sondern stellt sich spontan als ‚September Nowak’ vor und übernimmt deren Identitätskonstruktion, die sie schließlich nur allzu gut kennt. „Was, wenn sie aufflog? Nichts!“, wird ihr klar, und sie findet sich schnell in die Rolle hinein. Virtuos dichtet sie hinzu, verändert und verschiebt ihre Geschichte und entdeckt den Reiz am Spiel mit der Identität. Sie wird so, da nicht durchschaubar, auch für andere unwiderstehlich, und nur durch einen Zufall wird Bettis Schwindel schließlich aufgedeckt.

E .T. A. Hoffmanns Erzählung „Meister Floh“ begleitet Betti auf ihrer Reise. Immer wieder zieht Betti Vergleiche und greift Elemente der Geschichte auf. „Alle, alle Menschen sind kämpfende Blumen“, stellt sie schon ganz zu Beginn ihrer Reise fest, und immer wieder zieht sie Parallelen zu Hoffmanns Kunstmärchen, bis sie Christines Kindern schließlich die ganze Geschichte des „Meister Floh“ erzählt.

Berges nähert sich Hoffmann aber vor allem durch den Rückgriff auf romantische Erzählweisen. Seine Erzähler bleiben stets unzuverlässig: Der auktoriale Erzähler wird stellenweise von den Gedanken eines Ich-Erzählers abgelöst, dessen Einführung verwirrend und rätselhaft auf den Leser wirkt. Insgesamt lässt Berges vier unterschiedliche Erzählstimmen zu Wort kommen, was nicht zu einer Klärung des Handlungsstrangs beiträgt, sondern im Gegenteil für eine verschwommene Wahrnehmung des Geschehens sorgt. Die Orientierung wird erschwert, und das Erzählte wirkt wie ein nebulöser Traum, der den geübten Rezipienten herausfordert und ihn in eine Welt der Illusionen entführt.

Auch die Zeitgliederung folgt keiner erkennbaren Struktur: Es kommen Sprünge zwischen insgesamt drei zeitlichen Ebenen vor, mal vorausschauend, mal zurückblickend. Gleichfalls finden Überschneidungen von Fiktion und Realität statt, wenn echte prominente Personen als Teil der fiktionalen Geschichte auftauchen. Dann wieder stellen sich Elemente als reine Vorstellungen Bettis heraus. Für den ganzen Roman gilt, dass sich der Leser niemals sicher sein kann. Trotzdem – und auch gerade dadurch – gelingt es Berges, Spannung aufzubauen und durchweg aufrechtzuerhalten.

Im letzten Kapitel kommt Betti schließlich selbst zu Wort. Jahre später auf einer Ausstellung erkennt sie sich auf einem Foto von Andreas Gurski wieder, wie sie, am Tag, an dem sie Ingrid traf, in Monacos Stade Nautique ihre Bahnen schwimmt. Die Ausstellung gab es wirklich, 2008 in Darmstadt, das besagte Foto, auf dem man tatsächlich eine einsame Schwimmerin entdecken kann, ist im Anschluss abgedruckt.

Die Thematik der fiktionalen Existenz, die das Buch aufwirft, gewinnt angesichts der Möglichkeiten des Internets zunehmend an Bedeutung. Virtuelle Existenzen werden durch die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke erschaffen und zur Selbstdarstellung genutzt. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion werden fließend, und die ‚eigene‘ Person kann erschaffen werden.

Markus Berges legt mit diesem gelungenen Werk ein humorvolles, tragikomisches und gleichzeitig sehr anspruchsvolles Debut vor. In seiner sehr eigenen, bestechenden Sprache schafft der „Erdmöbel“-Sänger eine Grundstimmung, der sich der Leser kaum entziehen kann. Wie in seinen Liedern bedient sich Berges auch in seinem Roman einer poetischen und sehr bildhaften Ausdrucksweise, mit der er sich der alltäglichen Sprache entzieht. „Ein langer Brief an September Nowak“ ist ein ganz besonders empfehlenswertes Werk, das uns auf Nachfolger hoffend entlässt.

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