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Titelbild
Foer, Jonathan Safran:
Alles ist erleuchtet
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003
384 S., € 22,90

Foer, Jonathan Safran: Alles ist erleuchtet

Von der Kniffeligkeit der Erinnerung

von Paula Peckmann (2004)

Es gibt Dinge, an die wir uns lieber nicht erinnern. Dinge, die wir getan, gesehen oder gehört haben und die wir versuchen so gut es geht zu vergessen. Aber: „Wenn wir einer besseren Zukunft entgegenstreben, müssen wir dann nicht mit unserer Vergangenheit vertraut und versöhnt sein?“

Jonathan ist ein junger Schriftsteller aus Amerika. Er kommt in die Ukraine, weil er ein Buch über das jüdische Dorf Trachimbrod schreiben möchte, wo die Generationen von seiner Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter bis zu seinem Großvater aufgewachsen sind. Er möchte in das Dorf zu seinen Wurzeln zurückkehren und er möchte Augustine finden: die Frau, die seinen Großvater im Krieg vor den Nazis gerettet haben soll.

Jonathans Reiseleiter ist ein alter Ukrainer, der sich selbst für blind erklärt und eigentlich längst Rentner ist. Dolmetscher ist dessen Enkel Alex, der nicht gerade „übereindruckend“ englisch spricht. Alex ist Anfang 20 und sein Leben ist ehrlich gesagt sehr gewöhnlich, deshalb freut er sich auf den Amerikaner und auf die Abwechslung der Reise. Zusammen mit der verrückten Blindenhündin des Reiseleiters machen sie sich in einem uralten klapprigen Auto auf die Suche. Doch die Schwierigkeit dabei liegt nicht in der skurrilen Zusammensetzung dieser Reisegesellschaft, sondern darin, dass jeder Mensch in der Gegend schlicht behauptet, es gäbe das Dorf Trachimbrod nicht. „Es war, als wären wir im falschen Land oder im falschen Jahrhundert, oder als ob Trachimbrod verschwunden wäre und damit auch seine Erinnerung.“

„Alles ist erleuchtet“ nimmt uns mit in die Erinnerung an diese Reise, aber auch in die Erinnerung an Trachimbrod. Es entstehen so zwei Geschichten auf unterschiedlichen Ebenen. Beide Geschichten werden im Anschluss an die Reise erzählt, nachdem Jonathan wieder in die USA zurückgekehrt ist. Jonathan und Alex stehen nun in Briefkontakt und schreiben jeweils ein Buch, das sie sich gegenseitig Stück für Stück zuschicken. Jonathan schreibt über Trachimbrod. Alex schreibt über ihre gemeinsame Reise. Wird der Leser zu Beginn durch die unterschiedlichen Erzählebenen verwirrt, so klärt sich die Situation spätestens mit den Briefen von Alex an Jonathan, die auf einer dritten Ebene stehen. Die Briefe reflektieren das Geschriebene und in ihnen führt sich letztendlich auch die Handlung fort. Foer gelingt so ein komplexer Aufbau, in dem sich zwei völlig unterschiedliche Geschichten am Ende doch auf eine unerwartete Weise miteinander verknüpfen. Er lässt diese Geschichten im Wechsel von Jonathan und Alex erzählen und verleiht ihnen jeweils einen ganz eigenen Stil. Während Jonathan poetisch und tiefsinnig von Trachimbrods Geschichte schreibt, berichtet Alex in selbstbewusst falsch formulierter Sprache von ihrer Reise auf der Suche nach Augustine und Trachimbrod.

Alex Reiseschilderung ist zu Beginn geprägt vom Witz komischer Situationen: So beschreibt er die sexuelle Vorliebe der Blindenhündin für Jonathan mit trockenem Humor, berichtet mit völligem Unverständnis, dass Jonathan Vegetarier ist, und erzählt von den „unappetitlichen“ Angewohnheiten ukrainischer Landsleute Amerikanern gegenüber. Aber je mehr Alex sich dem Ende seiner Erzählung nähert, desto nachdenklicher wird sein Ton. Denn so wie das erste Treffen mit dem „Helden“ Jonathan ernüchternd wirkt – „Er sah wirklich überhaupt nicht besonders aus. Ich war total unterwältigt.“ – so entwickeln sich auch die Ereignisse in eine völlig unerwartete und bedrückende Richtung. Die Reise, über die er schreibt, hat ein Ende genommen, über das er am liebsten schweigen würde:

Nach stundenlanger Suche treffen Jonathan, Alex und sein Großvater schließlich eine alte Frau, die in völliger Abgeschiedenheit wohnt und die von Trachimbrod weiß: „Es war früher vier Kilometer von hier, aber alles was es von Trachimbrod noch gibt, ist in diesem Haus.“ Ihr Haus ist randvoll mit Erinnerungen, abgefüllt in tausenden von Schachteln, die sich bis unter die Decke stapeln. Und dort finden die drei nicht nur Reste aus der Vergangenheit von Jonathans Großvater Safran, sondern auch die ‚Gespenster der Vergangenheit’ von Alex Großvater. Wie kommt er auf das Foto in der Schachtel, wieso reagiert er so seltsam auf manche Namen, warum wird es so wichtig für ihn, Augustine zu finden, und vor allem: „Was hatte er im Krieg getan?“

Mit der Wahrheit über Alex Großvater und Trachimbrod endet die Suche schließlich in tiefschwarzer Nacht, mitten auf einem verlassenen, leeren Feld in der Ukraine – wo vor 50 Jahren eine Welt zu Ende ging.

Über diese Welt – die Welt von Trachimbrod – schreibt Jonathan. Er beginnt mit dem Jahr 1791, in dem Trachimbrod seinen Namen erhält und seine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter Brod zur Welt kommt, und beschreibt die phantastische Geschichte des jüdischen Dorfes bis zu dessen furchtbaren Ende. Dabei erscheint Trachimbrod in einem liebenswert andersartigen Licht. Jonathan beschreibt Trachimbrod mit den Geheimnissen und Traurigkeiten seiner Bewohner, mit seinen Belanglosigkeiten und Traditionen und zitiert aus dem „Buch der Begebenheiten“, in dem die Trachimbroder alles Wichtige und Unwichtige festhalten. Dabei erfahren wir von der Aneinanderreihung der Absurditäten, die Brods Leben ausmachen, und Generationen später von Jonathans Großvater Safran, dessen Leben ebenfalls so gar nicht gewöhnlich verläuft. Nach 150 Jahren Trachimbrod bildet Safran schließlich „die Trennlinie zwischen dem, was war, und dem, was sein würde“. Als der Krieg kommt, ist er einer der wenigen, die Trachimbrod überleben, und beginnt ein neues Leben in einer anderen Welt.

Durch den Wechsel der Schreibstile gelingt dem Autor eine außergewöhnliche und beeindruckende Darstellung der ernsten Thematik. Die zunehmende Dramatik und die philosophischen Fragestellungen in Jonathans Geschichte werden durch den heiteren Ton von Alex in seinem Reisebericht und seinen Briefen aufgelockert. Doch auch Alex wird nachdenklicher, als das Ende der Geschichte näher kommt, das er am liebsten ändern würde. „[W]arum machen wir die Geschichte dann nicht besser als das Leben?“ Aber Jonathan ändert nichts an der Vergangenheit und so bleibt am Ende nur, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Einsicht: „Alles ist so, wie es ist, weil alles so war, wie es war.“

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