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Murail, Marie-Aude:
Simpel
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Frankfurt am Main:
Fischer Schatzinsel 2007
300 S.
€ 13,90
Jugendbuch ab 13 J.

Murail, Marie-Aude: Simpel

Schöner Wohnen

von Katharina Hagen und Imke Lammers (2007)

Zwei Mitbewohner für eine WG gesucht ... ... niemals hätten die vier Pariser Studenten damit gerechnet, dass einer ihrer zukünftigen Mitbewohner eine geistige Behinderung hat und sich das Zusammenleben alles andere als simpel gestaltet.

Barnabé, genannt Simpel, ist zweiundzwanzig, steht aber auf dem geistigen Niveau eines Dreijährigen. Seine Mutter ist gestorben, sein Vater streicht ihn aus seinem Leben und gibt die Verantwortung ab, indem er ihn in die Psychiatrie steckt. Aus Geschwisterliebe und Verantwortungsgefühl holt ihn sein 17-jähriger Bruder Colbert aus der Anstalt heraus und zieht mit ihm zu einer Verwandten. Die Wohnsituation erweist sich als sehr schwierig, und Colbert beschließt, eine Wohnung für sich und seinen Bruder zu suchen. Die beiden stellen sich in einer 4er-WG vor. Mit der geistigen Behinderung von Simpel konfrontiert, steht für alle zunächst fest: „Okay, das wird nicht gehen, wir sind Studenten, verstehst du. Dich hätten wir problemlos akzeptiert. Aber dein Bruder, der kann ja nicht frei rumlaufen. Der muss doch in so ein ... eine spezielle Einrichtung.“ Teils aus Neugier, teils aus Mitleid ändern die vier während des Gesprächs jedoch ihre Meinung, und die Brüder können einziehen.

Marie-Aude Murail beschreibt in ihrem Roman „Simpel“ auf einfühlsame und humorvolle Weise das Leben dieser außergewöhnlichen WG. Jeder der jungen Erwachsenen ist mit seinen Problemen beschäftigt, die das Leben und die Liebe so mit sich bringen. Durch den Einfluss, den Simpel auf ihren Alltag nimmt, ändern sich im Laufe des Romans die Blickwinkel und damit auch die Schicksale der Studenten. Unverhohlen wird der Leser mit der distanzlosen Art des Protagonisten konfrontiert: wie er seine Mitbewohnerin beim Duschen überrascht, jedem seine Meinung ungefragt mitteilt und keine Privatsphäre kennt. Doch seine liebenswürdige und naive Art weckt mit der Zeit Sympathie bei seinen Mitmenschen und auch dem Leser. Eine Szene in einer Eisdiele spiegelt nur einen von zahlreichen Momenten wider, die man mit Simpel erlebt. „Auf Simpels Bitte zählte die Verkäuferin alle Sorten auf: ‚Maracuja, Guave, Honig-Nugat, Cappuccino ...’ Simpel entschied sich für zwei Kugeln: ‚Vanille-Vanille.’“

Die Autorin ermöglicht dem Leser durch den großen Anteil von Dialogen, sich in die verschiedenen Perspektiven der Hauptpersonen einzufühlen. So fällt es nicht schwer, Verständnis für Simpels Verhalten aufzubringen und zugleich die teilweise barschen Reaktionen der Außenwelt nachzuvollziehen. Murail zeigt auf, dass die Begegnung mit behinderten Menschen durch deren Andersartigkeit oft Unsicherheit und Berührungsängste auslöst, die sich in abweisendem Verhalten ausdrücken.

Und Simpel ist wirklich anders. In seiner eigenen kleinen Welt ist sein bester Freund ein Stofftier: Monsieur Hasehase. Sobald die beiden alleine sind, erwacht dieser zum Leben, sie sprechen miteinander, und an dem einen oder anderen Streich ist eigentlich das Stofftier schuld. Wie auch an dem Morgen nach einer Party, an dem Simpel ein Feuerzeug stiehlt. „Neben einem vollen Aschenbecher hatte Corentin sein neues Feuerzeug liegengelassen. „’Das ist für deine Sammlung’, sagte Monsieur Hasehase, und Simpel nahm es an sich. Hasen haben immer eine üble Idee parat.“ Der große Stellenwert des Hasen in Simpels Leben wird durch die Überschriften der Kapitel verdeutlicht, in denen vorausdeutend beschrieben wird, was Monsieur Hasehase erlebt.

Das Stofftier verliert durch den gemeinsamen Alltag in einer ‚normalen’ WG immer mehr an Bedeutung. Simpel blüht durch den Kontakt zu seinen Mitbewohnern auf und ist immer weniger auf die Anwesenheit des Hasen und dessen Ratschläge angewiesen. Dies ermöglicht ihm, sich seinen Mitmenschen zu öffnen, und auch dadurch entwickelt sich seine Persönlichkeit.

Zu Recht erhielt Murail für „Simpel“ den „Prix de lycéens allemands“ 2006. Sie schafft es, eine schwierige Thematik in einem locker geschriebenen Jugendroman zu verarbeiten, in dem die Gefühlswelten der jugendlichen Protagonisten facettenreich dargestellt werden. Die ungewöhnliche Situation der Brüder und die eher irrealen Umstände wirken durch die authentische Erzählweise durchaus lebensnah. Und doch grenzt es ein wenig an ein Wunder, dass sich schließlich alle einig sind: „’Das Leben ist seltsam [...]. Vor zwei Wochen ging Simpel mir auf die Nerven. Jetzt ist er wie ein Bruder.’“

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