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Wiesner, David:
Strandgut
Hamburg: Carlsen 2007
40 S.
€ 15,-
Bilderbuch ab 6 J.

Wiesner, David: Strandgut

Camera obscura

von Janine Krautheim und Christian Schulz (2007)

Sandburgen bauen ist sicher die Lieblingsbeschäftigung vieler Kinder am Strand. Aufgeweckte Jungurlauber aber haben nicht nur Eimer und Schaufel, sondern auch allerlei Utensilien dabei, um ihre Umgebung zu untersuchen. Manchmal werden Interesse und Neugier sogar mit ganz unerwarteten Ansichten belohnt ...

So auch in David Wiesners Bilderbuch „Strandgut“, das ausschließlich in Bildern von einem Jungen erzählt, der beim Familienurlaub am Strand auf eine vom Meer angespülte Unterwasserkamera stößt (das uralte Gerät trägt den bereits abenteuerverheißenden Namen „Melville“). Er entnimmt der Kamera eine Filmrolle und läuft damit aufgeregt zum nächsten Fotogeschäft. In einer Sequenzfolge kleiner Bilder sieht man den ungeduldig vorm Geschäft wartenden Abenteurer und spürt förmlich das langsame Verstreichen der Zeit, bis der Film entwickelt ist.

Die Spannung erreicht auf der nächsten Seite ihren ersten Höhepunkt. Sie wird dabei von der Layoutkomposition getragen, die das Geschehen in einer kurzen filmischen Bildfolge zeigt. Im Vordergrund links befinden sich drei Inserts: 1. Der Junge läuft zurück zum Strand. 2. Er packt das erste Foto aus. 3. Er betrachtet es erstaunt. Diese drei ‚Aufnahmen’ führen den Betrachter sprungweise näher an das Geschehen heran – bis zur seitenfüllenden hintergrundbildenden Detailaufnahme des staunenden, weit aufgerissenen Kinderauges.

Schnell wird das Erstaunen des Jungen klar, denn die Fotos gewähren dem Betrachter ganz neue und nie für möglich gehaltene Einblicke in eine phantastische Unterwasserwelt. Inmitten eines Schwarms roter Fische schwimmt ein Aufzieh-Spielzeugfisch, der den echten gleicht, aber einen Blick auf seine Mechanik freigibt. Die Fotos zeigen ganze Meereslandschaften, die kleine Lebewesen plötzlich groß erscheinen lassen, und winzige Außerirdische, die zwecks Sightseeing auf dem Meeresboden gelandet zu sein scheinen.

Ungläubig betrachtet der Junge das letzte Bild, das wieder an einem Strand aufgenommen wurde: Ein asiatisches Mädchen hält ein Foto in der Hand, auf dem wiederum ein Junge in skandinavischer Wollkleidung zu sehen ist, der ein Foto hält, auf dem ein weiterer Junge seinerseits ... Als unser Held diese Bild-im-Bild-Funktion erkennt, greift er zunächst zu seiner Lupe, dann zum Mikroskop, um die immer kleiner werdenden Menschen zu sehen. In siebzigfacher Vergrößerung ist schließlich – in schwarz-weiß und vor hundert Jahren aufgenommen – der Urheber der Fotoreihe zu sehen. Dem Jungen leuchtet ein, dass es nun an ihm ist, ein weiteres Foto dieser Reihe zu schießen, die Kamera wieder ins Meer zu werfen und auf die Reise zu schicken. Irgendwann wird sie wieder irgendjemandem neue ungeahnte ozeanische Ansichten präsentieren ...

Die Fotografie und der Film werden in David Wiesners „Strandgut“ nicht nur inhaltlich aufgegriffen. Auch die Gestaltung des Buches ist eine Reminiszenz an diese Bildmedien. Die wunderbaren Bilder sind fast fotorealistische Darstellungen des Geschehens. Virtuos in einer Mischtechnik aus Aquarell, Gouache und Buntstift arbeitet der Künstler sorgfältig jedes kleinste Detail seiner Werke aus. Gleichzeitig liegt ein traumartiger Schleier über ihnen. Die Bilder sind in pastelligen Tönen gehalten und haben nur zart angedeutete Konturen; die Flächen weisen eine feine Struktur auf, die an die Körnigkeit von Filmmaterial erinnert. Eine unterschiedliche Ausleuchtung trennt dabei Über- und Unterwasserwelt: An Land spielen die Szenen in gleißendem Sonnenlicht, im Ozean dominieren dunklere Farben. Entsprechend variiert die Seitengestaltung: Während die Unterwasserfotos ganzseitig dargestellt werden, wird die Rahmengeschichte in teilweise comicartig angeordneten oder an Storyboards erinnernden Bildfolgen erzählt; ständige Perspektiv- und Formatwechsel sowie unterschiedliche Entfernungseinstellungen erzeugen filmische Spannung.

David Wiesners Bilderbuch „Strandgut“ ist eine Hommage an die Medien Foto und Film und zitiert deren Möglichkeiten einer glaubhaften Visualisierung von Fiktion. Darüberhinaus fordert es auf, auch unter die Oberfläche der Dinge zu sehen. Es spricht die Frage nach Schein und Sein an und regt philosophische Grundüberlegungen über unsere eigene Herkunft und Zukunft an. Das in jeder Hinsicht phantastische Buch dürfte Kinder ab sechs faszinieren und mit fortschreitendem Alter bei jedem Wiederbetrachten Neues entdecken lassen. Bei „Strandgut“ spricht immer wieder das Bild im Bild. Ganz ohne Worte.

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