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Titelbild
Wildner, Martina:
Murus
Berlin: Berlin Verlag GmbH 2008
416 S.
€ 16,90
Übergangsbuch ab 12 J.

Wildner, Martina: Murus 

Zukunftsvisionen

von Daniela Voitl und Nora Wagner (2008)

Wir schreiben das Jahr 2371: Seit Alef Bustani vor genau 353 Jahren begann, eine Mauer zu bauen, verläuft diese mit einer durchschnittlichen Höhe von 22 Metern schnurgerade und endlos von Norden nach Süden. Es wird behauptet, dass die Mauer die Menschen davor schützen soll, ins Nichts zu stürzen. Doch das ist nur eine dürftige Wahrheit!

Joseph Pizzicato, genannt Jojo, lebt mit seinen Pflegeeltern Agathe und Otto in einem verfallenen Haus am Rande einer großen Stadt. Es sind arme Leute, die – wie fast alle Bewohner der Stadt – täglich gegen Hunger und Krankheiten zu kämpfen haben. Aber sie sind zäh und kommen mit wenig aus. Größere Probleme bereiten ihnen die streunenden Jugendbanden, die raubend und plündernd durch die Straßen ziehen. Woher die vielen Jugendlichen kommen, weiß niemand so genau, aber es werden Gerüchte laut, dass sie „von drüben“ sein könnten.

Eines Nachts hört Jojo ein Geräusch vor dem Haus, und als er nachschaut, findet er vor der Tür eine schlafende Jugendliche mit kahlgeschorenem Kopf und einer Verletzung am Arm. Als die junge Frau am nächsten Morgen erwacht, kann sie sich an nichts erinnern. Doch ihr gepflegtes Erscheinungsbild, ihre gewählte Sprache und ihr umfangreiches Wissen über Dinge, von denen weder Jojo noch dessen Pflegeeltern je gehört haben, legen einen ungeheuerlichen Verdacht nahe. Könnte es sein, dass sie auch „von drüben“ kommt?

Während Lotte – wie sie von nun an genannt wird – von Agathe gesund gepflegt wird, lernt Jojo durch Zufall den Muralistiker* Mark Simon kennen. Dieser trägt einen geheimnisvollen Geigenkoffer mit sich herum, und ist auf der Suche nach zwei vermissten Kindern. Als Jojo eines Tages ein seltsames Medaillon – eine kleine goldene Kapsel, in der sich eine schillernde Kugel befindet – bei Lotte entdeckt, scheint sich das Rätsel um die junge Frau mit der Hilfe des Wissenschaftlers endlich zu lüften. Dieser stellt nämlich fest, dass es sich bei dem Medaillon um eine so genannte „Memokugel“ handelt, auf der Lotte 150 Informationen über ihr früheres Leben gespeichert hat. Es folgt ein Erlebnisbericht aus der Sicht Lottes, da der Leser nun die Sprachnachrichten, die Lotte anscheinend willkürlich aufgenommen hat, gemeinsam mit Jojo und Herrn Simon ‚abhören’ darf. Und ebenso wie die beiden muss er versuchen, die Bruchstücke von Informationen zu einer Geschichte zusammenzusetzen, die Hinweise auf Lottes Schicksal liefern wird. Doch nicht nur auf ihres …

Zwei Welten voller Gefahren und Geheimnisse, untermalt mit zahlreichen, originellen, futuristischen Ideen, die pseudowissenschaftlich erklärt und mit vereinzelten Schwarz-Weiß-Zeichnungen veranschaulicht werden, machen den Roman zu einem spannenden und zuweilen amüsanten Leseabenteuer. So schmunzelt der Leser beispielsweise bei der Beschreibung der „4 Stadien der Rückbildung eines temporären Einseitig Unsichtbaren Fensters“, wenn es im vierten Stadium heißt: „Das Fenster verweilt für ca. 2,3 s in Form und Funktion einer Normaltür. Öffnungswahrscheinlichkeit: 78%“. Doch leider verliert der Roman durch unglaubwürdige Szenen an Authentizität und überflüssige Details ziehen das Geschehen künstlich in die Länge. Diese dienen nämlich weder dem Verständnis der aktuellen Ereignisse, noch der Rekonstruktion der Vorgeschichte. So wirkt dir Geschichte teils konstruiert, teils überladen. Trotzdem wird sie die jungen Leser allein wegen ihrer geheimnisvollen und spannenden Atmosphäre und den vielen aufgeworfenen Fragen an das Buch fesseln. Aufgrund seiner Komplexität ist es jedoch nur für geübte Leser zu empfehlen.

Mit „Murus“ zeichnet Martina Wildner ein bedrückendes Bild einer vielleicht nicht allzu fernen Zukunft, wobei sie viele Bezüge zu real-historischen Ereignissen herstellt. Es ist das Bild einer Welt, in der jeglicher ‚menschliche Müll’ aus der Gesellschaft entfernt und hinter einer großen Mauer versteckt wird. Was aber, wenn sich ein solches System verselbstständigt und außer Kontrolle gerät? Wie gut, dass es sich bei dem Roman, den man gut als Dystopie bezeichnen kann, um reine Fiktion handelt! Doch es geht nicht nur um real existierende Mauern, sondern vor allem um solche, die in den Köpfen der Menschen erzeugt werden. Muralistisch gesehen kann man nämlich nur bei diesen von perfekten Mauern sprechen, da sie viel schwieriger zu zerstören sind, als die ,echten’. Ein brisantes Thema, welches dem Buch eine gewisse Zeitlosigkeit verleiht! Schade ist nur, dass der interessierte Leser, der – je mehr sich der Roman dem Ende neigt – zunehmend ungeduldig auf eine Auflösung wartet, zuletzt doch enttäuscht wird. Diese Enttäuschung resultiert allerdings nicht aus dem offenen Ende des Buches, da der Roman allein aufgrund seines Genres förmlich danach schreit. Vielmehr ergibt sie sich – in Erwartung einer deutlich strukturierteren und aussagekräftigeren Erzählweise – aus der Überraschung über das ,Daherplätschern’ des Geschehens auf den letzten 30 Seiten.

* Ein kleiner Exkurs: Die Muralistik ist eine Wissenschaft, die sich mit Mauern beschäftigt, bei der sich Wissen und Glaube jedoch so vermischen, dass sie ebenso gut als Religion verstanden werden kann. „Für alle Fälle erklärt Lotte an dieser Stelle die neun muralistischen Prinzipien:
1. Die Zweiheit ist die wahre Einheit.
2. Die Zweiheit wird durch Mauern verschiedenster Art hergestellt.
3. Zweiheit bedeutet Leben.
4. Es gibt viele Mauern, aber nicht genügend.
5. Dein Ziel ist die perfekte Mauer.
6. Jeder Mauerfeind ist auch dein Feind.
7. Schütze die Mauer!
8. Gedenke täglich der Mauer!
Schließe in deine Gedanken Alef Bustani ein.“

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