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Titelbild
Spinnen, Burkhard:
Müller hoch Drei
Frankfurt am Main: Schöffling 2009
296 S.
€ 17,90
Kinderbuch ab 10 Jahren

Spinnen, Burkhard: Müller hoch Drei

Rasanter Roadtrip zu sich selbst

von Britta Lüling (2009)

„Wir trennen uns“, verkünden Pauls Eltern – sieben Tage vor seinem vierzehnten Geburtstag. Doch er wird kein Scheidungskind, sondern ein „Verlasswaise“. Seine Eltern trennen sich von ihm. Und so schnell wie die Trennung ausgesprochen ist, so schnell sind sie aus der Tür hinaus und ab in Richtung Karibik. Aber welcher Dreizehnjährige wünscht sich das nicht manchmal? Endlich einmal Ruhe von den Erziehungsberechtigten. Die ach so peinlichen Eltern einfach mal auf den Mond schießen. Die sturmfreie Zeit genießen. Doch was passiert, wenn man wirklich vater- und mutterseelenallein ist?

Paul haut die Trennung um. Das einzige, was ihm bleibt: gelbe Post-it-Zettel mit neunmalklugen Tipps zur Alltagsbewältigung und die Verheißung von Geld – wenn er es nur finden würde. Als ihm am nächsten Tag dann auch noch per Post die Verantwortung über einen verhaltensauffälligen Hund auferlegt wird, sieht er sich kurz vor einem „Verzweiflungstod“. Seine einzige Hoffnung: die „multiple aversive“ Tante Elke. Doch auf dem Weg zu ihr wartet bereits die nächste Überraschung: Ein Mädchen im Bus behauptet doch glatt, seine verlorene Schwester zu sein. Angekommen bei seiner Tante, offenbart sich dann seine ganze, vertrackte Familiengeschichte. Er ist nicht nur kein Einzelkind, wie er immer angenommen hatte, sondern auch noch Drillingsbruder. Seine Schwestern Paula und Pauline wurden nach der Geburt zur Adoption freigegeben und haben nun mit ihren ganz eigenen familiären Problemen zu kämpfen: Paula ist auf der Flucht vor einer vermeintlichen Zwangsehe, und Pauline steht zwischen den Fronten ihrer Eltern, die sich gerade scheiden lassen.

Die jeweils unglückliche Familiensituation der Drillinge wäre sicherlich Grund genug, um mit Rückzug zu reagieren. Doch die Geschwister finden sich nicht mit ihrem Schicksal ab. Sie verbünden sich und schmieden schnell Pläne, wie sie – stets begleitet von dem Hund Piet Montag – ihr Familienglück selbst in die Hand nehmen können.

Burkhard Spinnen entwirft mit den Drillingen Paul, Paula und Pauline drei starke Helden, die von ihm durch originelle und witzige Charakterisierungen zum Leben erweckt werden: „[Paula] trug […] lauter Sachen, die das Spektrum sämtlicher möglicher Varianten der Farbe rosa vollständig abdeckten. […] Sie anschauen und den Geschmack von einem ganz bestimmten rosafarbenen Kaugummi im Mund haben, das war praktisch eins.“ Im Zusammenspiel der Drillinge mit dem verhaltensoriginellen Hund Piet Montag und den Nebenfiguren, dem allwissenden, aber arbeitslosen Tiertrainer Hochschmidt und der schrulligen Tante Elke, zeigt sich der ganze Charme des Buches.

Gekonnt spielt Burkhard Spinnen mit dem Erzählmuster des Schelmenromans und schickt seine Helden auf einen rasanten Roadtrip quer durch Deutschland, auf dem sie von einer skurrilen Überraschung in die nächste stolpern. Die Steigerung von Szene zu Szene wird zum Erzählprinzip und erinnert an eine Vorlage für eine Fernsehserie à la Hollywood, wie sie verrückter nicht sein könnte. Die Tatsache, dass Pauls Vater Storyboarder ist, scheint nicht von ungefähr zu kommen.

Doch trotz der sich immer wieder überschlagenden Handlung verlieren die Drillinge nicht ihr Ziel aus den Augen: Sie wollen sich eine Familie basteln! Allerdings schwebt ihnen nicht eine Versöhnung der jeweiligen Eltern wie in „Das doppelte Lottchen“ vor, sondern vielmehr eine Patchwork-Familie oder irgendetwas, „das halbwegs so aussieht. Oder nur so funktioniert.“ Ob sich diese vielleicht zeitgemäßere Vorstellung letzten Endes verwirklicht, lässt der Roman offen.

Klar und deutlich zeigt sich jedoch die Entwicklung des Protagonisten. Paul reift in nur fünf Tagen von einem „naiven, weltfremden Kind“, das „auf unangekündigte negative Veränderung in [s]einer Umwelt [gerne] mit zusammenrollen und mucksmäuschenstill sein“ reagiert, zu einem selbständigen Jungen. An seinem vierzehnten Geburtstag zeigt er, dass er sich nicht mehr unter seiner geliebten Patchworkdecke versteckt, sondern das Zepter selbst in die Hand nimmt, seine Wünsche und Hoffnungen formuliert und diese auch vor den Erwachsenen durchzusetzen weiß.

„Müller hoch Drei“ besticht durch rasantes Tempo, Humor und Wortspiele, wobei die einfache und lockere Sprache dem jungen Leser das Lesen erleichtert. Burkhard Spinnen weiß Alltagsrealität mit skurrilen Begebenheiten geschickt zu verbinden und sie mit einer guten Portion Ironie und Zynismus darzustellen. Dabei schildert der Ich-Erzähler nicht nur sein eigenes Schicksal sehr ironisch, sondern er beleuchtet z. B. auch die bevorzugte Haute Cuisine seiner Eltern oder das „typisch Berlinerische Verhalten“ in kritisch humorvollem Stil: „Schon auf dem Bahnsteig begann sie damit, vorsätzlich Leute anzurempeln, um sich dann über deren Blödheit zu beschweren. Offenbar war das ein Ritual, mit dem der Berliner nach längerer Abwesenheit seine Stadt begrüßt.“

Burkhard Spinnen gelingt mit „Müller Hoch Drei“, acht Jahre nach dem großen Erfolg von „Belgische Riesen“, eine einfallsreiche, humorvolle und ziemlich skurrile Entwicklungsgeschichte, in der er nicht nur die Welt seines Protagonisten auf den Kopf stellt, sondern auch die seiner Leser. In rasantem Tempo spielt er mit den Lesererwartungen, die er direkt wieder zu unterlaufen weiß und somit immer wieder aufs Neue überrascht.

Ein wunderbar verrücktes und originelles Buch für Kinder ab zehn Jahren, das mit viel Ironie und Witz zum Lachen einlädt.

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