zum Inhalt springen

vergrößern:
Christine Nöstlinger:
Lumpenloretta
St. Pölten u. a.: Nilpferd im Residenz 2010
125 Seiten
€ 13,90
Übergangsbuch ab 11 Jahren

Christine Nöstlinger: Lumpenloretta

Manege frei für die Liebe?

von Sandra Blohm (2011)

In einer österreichischen Vorstadtsiedlung mit uniformen Einfamilienhäusern bringt ein dreizehnjähriges Mädchen mit Schnittlauchhaaren und Flügelohren, die von den Müttern der Nachbarschaft abwertend so genannte „Lumpenloretta“, nicht nur die Vorstellungen der sozialen Aufsteiger mit Bildungstick, sondern auch die Hormone eines gleichaltrigen Jungen durcheinander.

Lorettas abgedrehte Familie, die sich durch den Handel mit Altwaren über Wasser zu halten versucht, bezieht in dieser Siedlung ein leerstehendes Haus und eckt in der Nachbarschaft nicht nur durch laute Musik, sondern insbesondere durch ihr trödeliges Erscheinungsbild empfindlich an. Auch der unbekümmerte Umgang mit ihrem Neugeborenen entspricht keineswegs der Vorstellung der Anwohner. Für den Nachbarjungen Konrad, der von seinen Freunden nur Glatze genannt wird, weil er sich aus Protest gegen seine Eltern immer wieder neu die Haare abrasiert, genügt ein kurzer Augenblick, um sich Hals über Kopf in das fremde Mädchen mit den Storchenbeinen zu verlieben. Von nun an widersetzt er sich den Anweisungen seiner Mutter und wirbt, allen Vorurteilen zu trotz, um seine Loretta, die von einer Karriere als Zirkusprinzessin träumt.

Dass Loretta, die mittlerweile allein im Nachbarhaus lebt – ihre Eltern sind weitergezogen und haben das Baby abgegeben –, auch Kontakt zu seinen Kumpels aufnimmt und sich wie eine Klette an seine Freundin Locke hängt, macht die Sache für Konrad nicht einfacher. Als Lockes Opa nach einem Versuch, wenigstens die gröbsten Spuren der Verwahrlosung in Lorettas Heim zu beseitigen, das Jugendamt einschaltet, muss Loretta die Siedlung verlassen und kehrt nicht zurück. Als sie endlich eine Ansichtskarte schickt, zögert der verliebte Glatze nicht lange, hebt sein ganzes Geld von der Sparkasse ab und macht sich auf den mühsamen Weg, um Loretta aus dem Heim zu holen und sich mit ihr in Richtung Süden durchzuschlagen.

Für Glatze, den stillen Sturkopf, der sich oft auf seinen „Denkstein“ zurückzieht, um über Gott und die Welt nachzudenken, haben Gefühle bisher keine große Gewichtung gehabt. Nun trifft es ihn umso heftiger. Die neuen Empfindungen verwirren ihn, und er ist nicht in der Lage, sie richtig zu deuten und zu interpretieren. Dass Liebe blind machen kann, ahnt er nicht einmal.

Christine Nöstlinger behandelt in ihrer Erzählung jugendliche Themen wie Liebe, Freundschaft und Eifersucht und verflicht sie mit sozialen Themen wie Verwahrlosung und Vernachlässigung. Dabei durchzieht eine handfeste Gesellschaftskritik das gesamte Buch. Nöstlinger spielt mit Klischees, indem sie die Mütter der Jugendlichen als stets nörgelnde und lästernde Frauen einführt, die jedoch nicht in der Lage sind, hinter die Fassade der anscheinend nur seltsam gekleideten Loretta zu blicken und den Ernst der Lage zu erkennen. Denn dass Loretta völlig vernachlässigt ist und gar nicht für sich selber sorgen kann, fällt nur Lockes Opa auf. Die Kritik an Lorettas flippigen Eltern ist eher implizit, nie drängt sie sich in den Vordergrund, auch wenn offensichtlich wird, dass die „zwei Cowboy-Imitate“ in jeder Hinsicht ganz unverantwortlich und ohne jede Rücksicht auf ihre Kinder handeln.

Loretta ist das Opfer der eigensüchtigen Unbekümmertheit ihrer Eltern. Dies will sie nicht nach außen dringen lassen, deshalb versucht sie, die Zustände der Vernachlässigung zu vertuschen. So erfindet sie Geschichten für ihren unregelmäßigen Schulbesuch, verharmlost die Abwesenheit ihrer Eltern und bagatellisiert das anwachsende Chaos und die unhygienischen Zustände im Haus. Durch das Verhalten Lorettas wird der Blick des Lesers zunehmend gesteuert. Bringt er dieser – als Wiedergängerin der „Pippi Langstrumpf“ eingeführten – Figur anfangs noch seine ganze Sympathie entgegen, wie auch Glatze dies tut, entwickelt er allmählich Distanz zu Loretta und sieht die Geschehnisse mehr und mehr durch skeptische Augen. Eine Grundsympathie für Loretta geht ihm jedoch nicht verloren.

Das fröhlich wirkende Mädchen, das am liebsten durch den Garten tanzt und Kunststücke für die ersehnte Zirkuskarriere probt, heftet sich in Wirklichkeit an jede Person, die ihm ansatzweise Interesse und Verbundenheit entgegenbringt. Diese Verbundenheit empfindet auch Glatze. Ihm wird jedoch nicht bewusst, dass Loretta im Bezug auf Menschen sehr stumpf und emotionslos ist. Sie fischt lediglich die Gefühle ihrer Freunde ab, nicht ansatzweise empfindet sie das Gleiche für Glatze wie dieser für sie. Schon früh hätte ihm klarwerden können, dass Loretta für all seine Anstrengungen, ihr zu helfen und für sie da zu sein, auch nicht ein Dankeschön übrig hat. Dies wird ihm aber auch bei seiner Reise zu Loretta nicht deutlich. Er versteht ihre Abfuhr nicht – das Mädchen begreift gar nicht, was er will, und denkt überhaupt nicht daran, ihm zu folgen – und träumt weiterhin von einer gemeinsamen Zirkuskarriere mit seiner Loretta.

Durch die leicht ironische, distanzierte und abwechslungsreiche, aber auch humorvolle, an das Mündliche angelehnte und mit witzigen Austriazismen („Bandlkramergschrapp“ = Hausiererkind) gewürzte Sprache wird dem Leser die Identifikation mit den Protagonisten ermöglicht. Christine Nöstlinger eröffnet einen authentischen Blick auf die Geschehnisse durch auktoriales Erzählen (durchgängig im Perfekt) und bietet dem Leser somit eine Schilderung von inneren Vorgängen, Gedanken und Gefühlen. Ein Reiz der Erzählung liegt sicherlich auch darin, dass die Nöstlinger absichtsvoll Fährten auslegt, die zumindest den etwas erfahreneren Leser auf bekanntes Gelände locken – man denke nur an das als Klischee eingeführte Romeo-und-Julia-Motiv –, um ihm nachher umso deutlicher eine Nase zu drehen.

Leseprobe