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Rafik Schami:
Das Herz der Puppe
Mit Bildern von Kathrin Schärer
München: Hanser 2012
185 Seiten
€ 12,90
Kindle eBook: € 9,99
Illustriertes Kinderbuch ab 8 Jahren

Schami, Rafik (Text) und Kathrin Schärer (Illustration): Das Herz der Puppe

Abschied aus dem Puppenland?

von Abschied aus dem Puppenland? (2012)


Ob aus Porzellan, Hartgummi oder Stoff – fast jedes Kind besitzt eine. Sie sind Freunde, die trösten oder zum Lachen bringen: Puppen. Auch in Rafik Schamis neuem Werk „Das Herz der Puppe“ geht es um eine solche Freundschaft.

Da Ninas Familie erst vor kurzer Zeit umgezogen ist, fühlt sich das Mädchen sehr einsam. Alle ihre bisherigen Freunde sieht sie nicht mehr, und in ihrer neuen Straße gibt es vorerst keine Kinder. Da entdeckt Nina eines Tages auf dem Flohmarkt unter einem Tisch eine Schüssel, aus der ein Bein steif in die Luft ragt. Schlagartig wird ihr bewusst, „dass sie gleich genau das finden würde, wonach sie die ganze Zeit gesucht hatte.“ Und tatsächlich entdeckt das Mädchen eine Puppe, welche sie sofort in ihr Herz schließt. Als Nina dann wenige Augenblicke später feststellt, dass ihre Puppe auch noch reden kann, scheint ihr Glück perfekt ...

In 39 Kapiteln erzählt der Autor episodisch, was Nina und Widu, so heißt ihre Puppe, alles erleben, und das ist eine ganze Menge. Denn Widu ist kein einfaches Spielzeug, sondernt eine „Angstsaugerpuppe“, die sich von der Angst der Kinder ernährt. Es werden Erlebnisse geschildert, in denen Nina Angst hat, diese aber mit Hilfe ihrer Puppe bewältigt. Dabei wird sowohl der Schulalltag als auch der Ärger mit Eltern und Freunden thematisiert. So gibt es beispielsweise einen Jungen, der ihr auf dem Weg zur Schule auflauert und vor dem sich das Kind fürchtet. Mit Widus Hilfe fasst Nina den Mut, zu dessen Mutter zu gehen und das Problem zu lösen. In vielen anschaulichen kleinen Geschichten aus ihrem täglichen Leben wird Nina nicht nur von Widu, sondern auch von ihren Eltern, ihrer Tante Olga, ihrer neuen Freundin Lulu aus dem Nachbarhaus und natürlich von ihren anderen Spielsachen, wie dem Schaf Wolke oder dem Plüschaffen Plums, begleitet.

Auf den ersten Blick zeichnet sich in den Geschichten ein völlig harmonisches Familienbild ab, was in mancherlei Hinsicht schon fast illusorisch wirkt. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass die friedliche Atmosphäre täuscht. Die Eltern arbeiten viel und gehen nebenbei gern ihren Vergnügungen nach. In dieser Zeit muss sich oft die Tante um Nina kümmern, beschäftigt sich dann jedoch lieber mit dem Fernseher als mit dem Kind. Kein Wunder also, dass sich Nina mit ihren Problemen an die Puppe wendet und häufig auf deren Lebensweisheit zurückgreift.

Nina selbst ist ein schüchternes Schulmädchen. Sie ist sehr emotional und verliert sich oft in einer Traumwelt. Da die Kleine viel allein ist, sucht sie im Gespräch mit ihrer Puppe Zuflucht. Widu ist sehr alt und hat schon viel von der Welt gesehen, wodurch sie einen reichen Erfahrungsschatz mit sich bringt. So kann sie Nina in schwierigen Situationen beratend zur Seite stehen. Aber Widu kann auch anders. Oft ist sie frech, kommandierend und manchmal auch sehr Ich-bezogen. Als Nina im Urlaub einen Jungen namens Flo kennenlernt, ist die Puppe neidisch und macht sich über ihn lustig. „Ein Floh mit Graspopo“ ist ihre erste Reaktion auf das fremde Kind. Auch verführt die Puppe das Kind zu Handlungen, beispielsweise dem heimlichen Naschen einer Praline, um ihre Macht zu demonstrieren. Dadurch wird deutlich, dass Widu auch eine dunkle, garstige Seite hat. Doch dies tut ihrer Freundschaft zu Nina keinen Abbruch, da die beiden wissen, was sie gegenseitig aneinander haben. So reift Nina während den Erzählungen heran. Sie wird mutiger und fällt öfter eigene Entscheidungen.

Und auch bei Widu wird trotz ihrer zuweilen biestigen und fordernden Art im Laufe der Geschichten erkennbar, dass sie sich über ihre Beziehung zu Nina viele Gedanken macht. Obwohl sie ihr Leben als Puppe genießt, wird Widu durch die Zeit mit Nina immer deutlicher bewusst, dass ihr etwas Entscheidendes fehlt. Zwar hat sie sich schon bei anderen Kindern wohl gefühlt, doch in der Nähe von Nina ist das anders. Sie fragt sich, warum Menschen Zorn, Sehnsucht oder Aufregung empfinden können und wie sich dies anfühlen könnte. Wünscht sie sich das auch? Sie begibt sich ins Puppenland, zu dem nur Puppen Zutritt haben und in dem sich diese bei Problemen Rat holen können. Als sie die anderen Puppen nach ihrer Meinung fragt, wird sie jedoch nur mit der knappen Erklärung „Sehnsucht sei gegen jede Vernunft, deshalb wohne sie ja auch im Herzen der unvernünftigen Menschen“ abgespeist, und auf ihre Frage, ob ein Herz zu haben eigentlich so schlimm wäre, erhält sie gar keine Antwort.

Widu muss sich also selber darüber klar werden, ob sie ein Herz haben möchte, um wie die Menschen fühlen zu können. Allerdings würde dies nach den Regeln des Puppenlebens auch bedeuten, dass sie dann alt werden und irgendwann sterben müsste. Ihre einzige Rettung wäre dann nur, wenn Nina es schaffte, die Welt auch als Erwachsene mit den Augen eines Kindes zu sehen, indem sie „über jede Blume staunt und jeden Schmetterling und jeden Stern als einzigartiges Wunder betrachtet“. Ein Zutritt zum Puppenland würde Widu dann jedoch in Zukunft verwehrt bleiben, da in diesem eine eigene Logik herrscht, welche den Puppen verbietet, allzu menschlich zu werden.

Tatsächlich gibt es Menschen, die sich dieses Wunder bewahrt haben. So erzählt Schami in seinem Buch auch von Herrn Moritz, welcher ehrenamtlich ein Fundbüro führt und sich dabei besonders um verlorengegangene Puppen kümmert. Er hat es geschafft, in seinem Herzen Kind zu bleiben. Er kann daher die Sprache der Puppen immer noch verstehen und nimmt die Puppen fürsorglich bei sich auf, wenn sie von Kindern vergessen wurden.

Widu muss sich also entscheiden, wie viel ihr die Freundschaft zu Nina bedeutet. Möchte sie dem Puppenland den Rücken kehren, um mit ihrer Freundin für immer zusammenbleiben zu können und mit ihr gemeinsam alt zu werden? Lange ist sich die Puppe unsicher, doch als Nina schwer krank wird, fällt ihr die Entscheidung nicht schwer. Niemals möchte sie ein ewiges Leben haben, wenn sie es ohne Nina verbringen soll. Sie hat einmal zu Nina gesagt, dass eine wahre Freundin immer ein Teil seines Selbst ist. Und so bekommt sie am Ende ein Herz und rettet dadurch das Leben ihrer Freundin.

Der in Syrien geborene Autor schreibt einfühlsam über Themen wie Angst, Freundschaft, Krankheit und Trauer. Damit auch der kleine Leser solch große Themen versteht, verwendet Schami eine sehr liebevolle Sprache. Diese ist jedoch oft mehrdeutig, und die Sätze müssen meist mehrmals gelesen werden, um den eigentlichen Sinn zu verstehen. Die einzelnen Kapitelüberschriften weisen dabei als Unterstützung auf den Inhalt hin und regen den Leser im Vorfeld zum Nachdenken über die jeweilige Geschichte an. Die Geschichten werden zudem durch kleine Bleistiftillustrationen von Katrin Schärer ergänzt. Die Zeichnungen sind einfach gehalten und nehmen meist nur ein Viertel der jeweiligen Seite ein. Sie bebildern Szenen aus Träumen und Alltagsszenen, wodurch sie den jeweiligen Inhalt unterstützen, um den es gerade in der Erzählung geht.

Das Buch hat keinen einheitlichen und durchgehenden Handlungsstrang, sondern ist gekennzeichnet durch unterschiedliche Typen von Erzählformen wie beispielsweise Märchen, Fabeln, Parabeln und verschiedene Spiele, beispielsweise Zungenbrecher oder Rollenspiele. Dies spiegelt die orientalisch-didaktische Erzählweise wider, mit der Rafik Schami seine Leser fesselt. So folgen auf die philosophischen Themen, wie etwa der Umgang mit dem Tod, meist Spiele oder amüsante Geschichten, die dem vorher Gelesenen die Schwere nehmen sollen. Die einzelnen Geschichten folgen hierbei zwar dem Jahreslauf, sind aber nicht zwangsläufig an eine feste Reihenfolge gebunden. So können einzelne Spiele und Erzählungen beliebig vertauscht werden.

„Das Herz der Puppe“ ist eine gelungene Parabel über die Bedeutung von Freundschaft, welche sich aufgrund ihrer oft sehr kurzen Kapitel hervorragend zum Vorlesen eignet und den Lesern und Zuhörern gleichzeitig auch immer genügend Raum bietet, über das Gelesene nachzudenken.

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