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Blexbolex [d. i. Bernard Granger]:
Niemandsland
Berlin: Jacoby & Stuart 2012
72 ungez. Bll
€ 29,00
Graphic Novel ab 16 Jahren

Blexbolex [d. i. Bernard Granger]: Niemandsland

Auf dem Weg nach unten

von Robert Kamo (2012)


Eine endzeitliche Stimmung liegt über der Welt. Der alte Konflikt zwischen dem mächtigen System und denjenigen, die ihm gegenüberstehen – in diesem Fall könnte man sie wohlwollend Anarchisten oder Zyniker nennen – schlägt die letzten, großen Wellen und reißt alles mit in den Abgrund. Der namenlose Protagonist der Geschichte steht zwischen den Fronten, er ist ein gemeinsamer Feind beider Seiten geworden. Er blickt zurück auf die Ereignisse, die es soweit kommen ließen, reflektiert, sinniert, halluziniert.

Der französische Autor und Illustrator Bernard Granger alias Blexbolex legt mit „Niemandsland“ seine erste ‚Graphic Novel‘ vor, die zwar in einem hauptsächlich Kinderbücher produzierenden Verlag (Jacoby & Stuart) erschienen ist, aber deutlich auf reifere Käuferschichten abzielt. Seine bisherigen Arbeiten, die ein breites Spektrum zwischen illustrierten Kinderbüchern und Comics für eine eher erwachsene Zielgruppe abdecken, wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Der Protagonist in „Niemandsland“ hat sich in einer dystopischen Zukunft an eine mächtige Institution namens „Banks“ verkauft, die in der Erzählung als unförmige, mit Augen übersäte Kreatur auftritt. Die Augen stehen sinnbildhaft für das Streben nach totaler Überwachung und Kontrolle: Diese Kreatur ist „geboren aus der Begierde gewisser Menschen, die Welt fest einzubetonieren in einer ewigen und unveränderlichen Erzählung“. Gerade im Zusammenhang mit dem Namen der Institution lässt sich hier ein nur zu offensichtlicher Bezug auf die Krise des Kapitalismus und die Macht des Bankensektors herauslesen.

Auf der anderen Seite tritt ein loser Haufen von Widerständlern auf – sie bewohnen das ‚Niemandsland’, das sinnbildlich als Reich der Kreativität und Phantasie verstanden wird. Hier gibt es einerseits den Gestiefelten Kater, den Hasen „Gregory Rabbit“ sowie den Werkunterrichts-Lehrer, die sich vor allem durch eines auszeichnen: ihre unbändige Brutalität. Ihr wahlloser Terror richtet sich gegen alles und jeden. Wenngleich einerseits klar wird, dass die genannte Gruppe um den Protagonisten in der Geschichte die direkten Gegenspieler des totalitären Banks verkörpert, bleiben ihre konkreten Ziele stets unklar. Dies liest sich mitunter wie eine extreme Karikatur der Pariser Unruhen von 2011.

Im Dienste Banks’ soll der Protagonist die Gruppe unterwandern, aushorchen und liquidieren. Hierbei wird bald klar, dass es sich bei ihm weniger um einen Kämpfer für Banks’ Ideologie handelt, als vielmehr um eine tief gespaltene Persönlichkeit, die weder der einen, noch der anderen Seite besonders nahesteht.

‚Niemandsland’ lässt sich auf vielfältige Art und Weise lesen. Etliche Erzähl- und Handlungsebenen, die oft kaum oder allenfalls andeutungsweise aufeinander Bezug nehmen, lassen einen wirklichen narrativen Zusammenhang zunächst nicht erkennen. Vielmehr scheint es sich hier um eine Reise in oder durch die Tiefen des menschlichen Bewusstseins zu handeln, das Erzählte vermittelt den Eindruck des Halluzinatorischen: Episodenhaft werden Ausschnitte dargeboten, die weder auf räumlicher noch auf zeitlicher Ebene eine feste Reihenfolge zu haben scheinen. Immer tiefer taucht der Erzählende ein in oft verwirrende Erinnerungs- und Assoziationsfetzen: Träumend findet er sich beispielsweise plötzlich in einem Raum voller Haifische wieder, als schließlich ein Fliegenmensch an der Decke erscheint, um ihm in diesem Traum eine weitere Geschichte von seinen Kriegserfahrungen zu erzählen, nur damit in dieser wiederum ein Feldwebel von seinen spirituell motivierten Drogentrips berichten kann. In den untersten dieser Erzählebenen fühlt man sich selbst wie in einen Drogenrausch versetzt.

Die Grafiken ‚erzählen’ die Geschichte auf ihre eigene Art. Figuren und Formen erscheinen beinahe ikonisch, häufig werden nur Umrisse abgebildet, und auf Details wie Mimik wird nahezu gänzlich verzichtet. Die Motive wirken fast ausnahmslos sehr flächig und zweidimensional, durch die Farbauswahl (rot, blau, grün und schwarz) zusätzlich künstlich und abstrakt. Einzelne Bildelemente wirken verwischt oder verschmiert, in der Regel allerdings nur hintergründig; auch lässt sich schwer sagen, ob dies gewollt oder lediglich der angewandten Siebdrucktechnik geschuldet ist. Die Bildgestaltung setzt sich größtenteils aus Totalen und Halbtotalen von einzelnen Figuren zusammen, die jedoch immer wieder unterbrochen werden von Landschaftsabbildungen und ‚Nahaufnahmen’. Die Hintergründe sind teilweise schlicht und lenken die Aufmerksamkeit auf den Vordergrund. Teilweise jedoch sind sie auch sehr komplex und üppig ausgestaltet und ‚liegen’ mit vielen Farbschichten beinahe über dem Geschehen, sodass die einzelnen Bildebenen ähnlich den Erzählebenen stark ineinander übergehen.

Die kunstvollen Siebdrucke, die jeweils einen Großteil der Seite einnehmen, bestehen aus vier teilweise übereinander gedruckten Farbschichten. Hierdurch entstehen zusätzlich weitere farbliche Abstufungen. Der handwerkliche Aspekt des Drucks lässt sich durch kleinere Ungenauigkeiten wie unsaubere Ränder stets herauslesen.

Das Abgebildete selbst bedient sich einer schier endlosen Fülle von Verweisen und Zitaten aus Literatur, Kunst und Zeitgeschichte: Deutlich wird dies zum Beispiel bei der Figur des Gestiefelten Katers, die hier wie ein böser Zwillingsbruder der Originals auftritt. Andere Bezüge offenbaren sich allerdings erst bei genauerem Hinsehen, hier sei zum Beispiel ein ‚Kapuzenmann’ genannt, der in Pose und Gestaltung an die Aufnahmen aus dem amerikanischen Foltergefängnis Abu Ghraib erinnert. In einer anderen Szene badet der Protagonist sich im Blut einer Schlange – ein Verweis auf das „Nibelungenlied“? Dieses intertextuelle Verwirrspiel trägt nur selten tatsächlich direkt zur Handlung bei, meist scheint es eher kontextfrei platziert zu sein. Gerade die schiere Anzahl von (un)bekannten Motiven und Verweisen lässt allerdings beim Lesen und Betrachten individuelle Interpretationsansätze zu.

Ergänzend zu den Grafiken gibt es jeweils darunter kurze Texte. Während die Grafiken durchaus auch autonom ‚lesbar’ sind, wirken diese Texte eher wie Interpretationen der eigenen Bilder, die mehr deren Inhalte umcodieren als tatsächlich selbst erzählen. Sprachlich knüpfen sie an die Erzählweise der Bilder insofern an, als dass sie ebenfalls wenig zusammenhängend, vielmehr assoziativ wirken und eher selten direkt Bezug aufeinander nehmen. Die Sprache pendelt stark zwischen extrem vulgärer Ausdrucksweise (insbesondere des Gestiefelten Katers) und geradezu poetischen Formulierungen, die sich häufig in den philosophischen Gedankenspielen des Protagonisten finden. Insgesamt wirken die Texte trotz der durchaus interessanten Sprache nicht besonders überzeugend, weil das notwendige Zusammenspiel mit den Bildern, das eine so komplexe Erzählung geböte, nicht so recht funktionieren will.

‚Niemandsland’ ist beeindruckend gestaltet und in dieser Hinsicht absolut empfehlenswert. Insgesamt muss aber gesagt werden, dass es einiger Anstrengung und Konzentration bedarf, sich durch die ‚Geschichte’ zu arbeiten, auch weil die textlichen Ergänzungen nur wenig zur Aufklärung beitragen. Die Graphic Novel ist eine interessante Herausforderung für Leserinnen und Leser ab etwa 16 Jahren, die genug Muße und auch eigene Phantasie mitbringen, um sich auf ein solches Leseerlebnis einzulassen.

 

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