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Marie Aude Murail:
Vielleicht sogar wir alle
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Frankfurt a. M.: Fischer Schatzinsel 2012
356 Seiten
€ 12,99
Jugendbuch ab 14 Jahren

Murail, Marie-Aude: Vielleicht sogar wir alle

Geschichten, die das Leben schreibt

von Carina Geitmann (2012)


Wenn es doch bloß das einzige Problem einer 14-Jährigen wäre, sich überlegen zu müssen, wie sie das Geld für weitere 32 Bände ihres Lieblingsmangas zusammenbekommt ...

Charlie Doinel ist eine Neuntklässlerin, liebt Sh?jo-Mangas, „Tokio Hotel“ und heißt wie ein Junge. Nein, eigentlich heißt sie Charline. Den Namen mag sie aber nicht. Ihre Gedanken kreisen um die Jungs aus ihren Mangas, ansonsten beschäftigt sie sich gern mit sich allein, vielleicht auch nur, weil in ihrer Klasse sowieso kaum jemand ist, der Interesse an ihr hat – zumindest glaubt sie das. Und ganz einfach macht sie es ihrer Umwelt auch nicht: "Um ihr zu gefallen, musste man zwingend Japaner sein und wahlweise bisexuell oder Psychopath."

In ihrem neuen Roman „Vielleicht sogar wir alle“ erzählt Marie-Aude Murail vom routiniert durchorganisierten Alltag einer ganz normalen französischen Durchschnittsfamilie. Charlies Vater, Marc Doinel, kommt nur noch zum Schlafen nach Hause, so sehr beschäftigt ihn die drohende Umstrukturierung seiner Firma. Ihre Mutter Nadine ist mit Leib und Seele Lehrerin in einer Vorschulklasse, liebt ihre Arbeit, steht aber unter ungeheurem Leistungsdruck in der Schule und wird immer unglücklicher. Charlies zu klein geratener Bruder Esteban ist hochintelligent, hat eine Vorliebe für seltsame Gedichte und Erfindungen, wird jedoch in der Schule gehänselt und soll jetzt plötzlich auch noch eine Psychologin aufsuchen. Und Charlie? Charlie hat den Eindruck, es beachte sie niemand – weder in der Schule, noch zuhause.

Murail erzählt ihre Geschichte aus der Überschau, wobei die eingenommene Perspektive von Person zu Person wechselt. So bekommt der Leser einen höchst lebendigen Eindruck von den Gedanken, Sorgen, Ängsten und Hoffnungen der einzelnen Protagonisten. Gleichzeitig verbinden sich diese nebeneinander stehenden, wie auseinandergeschnitten wirkenden Einzelbilder zu einem Gesamttableau der Charaktere und zur Geschichte des Buches. In dieser geht es vornehmlich um Themen wie Selbstfindung, Freundschaft, Mobbing, Leistungsdruck und Unzufriedenheit, den ermüdenden Schulalttag oder die Mühsal des von Herzlosigkeit und Profitstreben geprägten Berufslebens.

Marie-Aude Murail stammt aus einer französischen Schriftstellerfamilie. Sie zählt zu den beliebtesten zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen Frankreichs und wurde bereits mit zahlreichen Preisen geehrt. Für ihren Roman „Simpel“ wurde sie 2008 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (Preis der Jugendjury) ausgezeichnet.

Murail erzählt auf ihre leicht ironische und doch charmante Art und Weise von den Figuren des Buches. Ihre Zuneigung zu jeder Person, sogar zu den Nebenfiguren, ist immer zu spüren. Mit viel Wärme und Empathie erzählt sie etwa von dem Schicksal des Angestellten Dédé und seiner Behinderung oder von Barbosa, der seine Frau umgebracht hat und wieder ein normales Leben führen möchte. So hat jeder Firmenangestellte von Marc Doinel sein eigenes Päckchen zu tragen und wird dennoch vom warmherzigen Chef geliebt und wertgeschätzt.

Bereits die starke Akzentuierung der Erwachsenen-Schicksale verdeutlicht, dass wir es bei „Vielleicht sogar wir alle“ nicht mit einem Jugendroman im herkömmlichen Sinne zu tun haben, sondern eher mit einem Roman, der (auch) auf ein erwachsenes Lesepublikum abzielt. Hierfür sprechen auch die thematische Bandbreite und die besondere Ausformung des – häufig mehr auf Erwachsene berechneten – Humors.

In stimmungsgesättigten Detailzeichnungen, z. B. über Charlies Schulalltag oder das Treiben der Kinder in der Vorschule, entwirft die Autorin charakteristische Momentaufnahmen, die das Absurde der jeweiligen Situation pointiert zum Ausdruck bringen. An einzelnen Stellen – besonders bei der Zeichnung der spießig-pingeligen Großeltern – schlägt Murails mitunter etwas übertriebener und bissiger Humor ins Karikaturhafte um. Das ist zwar amüsant und vergnüglich zu lesen, will aber nicht so recht zu den durchaus ernsten Themen des Buches passen.

Alle Mitglieder der Familie Doinel haben ihre persönlichen ‚Macken‘, alle sind auf der Suche nach einem Sinn in ihrer aktuellen Lebenssituation. Dabei verlieren sie allerdings häufig den Blick für das Wesentliche: die Familie. Nadine Doinel zum Beispiel möchte ihren Kindern gerne sagen, dass sie sie liebt. Aber es ist sechs Uhr abends, und „sie erledigt das Dringendste zuerst“. So geht es auch den anderen: Alle lieben einander, finden aber keine Zeit, es sich zu zeigen oder zu sagen, und so hält das Schweigen zunehmend Einzug in die Familie. Nach und nach ergibt sich für jedes Familienmitglied jedoch der Wunsch nach einem weniger komplizierten Leben, ohne Sorgen, ohne Luxus. So stoßen alle durch unterschiedliche Zufälle auf eine Psychologiezeitschrift, in der das Leben einer Familie geschildert wird, die in mongolischen Jurten wohnt. Alle Lebensmittel werden selbst angebaut, Strom gibt es nicht. Jedes Doinel-Familienmitglied malt sich heimlich aus, wie es wäre, in so einer Jurte zu leben, zumal zuhause sowieso fast alle Elektrogeräte kaputt sind: „Die Mikrowelle war tot, der Toaster war tot, die Espressomaschine war tot, und ihre Wracks verstopften Tisch und Spüle.“

Eine warme Atmosphäre zieht sich durch den ganzen Roman. Auch durch den geschickten Wechsel von Alltagserzählung und Tagtraumschilderung schafft Murail ein berührendes Buch zum Lachen, Weinen und Nachdenken. Ihr gelingt es aufs Neue, so viele Probleme und Gedanken zu eröffnen, dass ein fröhliches Ende fast utopisch wirkt. Gleichwohl wird der Leser schließlich doch noch vollkommen zufriedengestellt – nicht zuletzt, weil es nicht zum fast befürchteten Lobgesang auf einen Ausstieg und ein alternatives ‚Zurück zur Natur‘-Leben kommt – und kann das Buch mit einem Lächeln beiseite legen. Die Botschaft des Romans mag etwas hausbacken klingen, aber sie macht durchaus Mut: Man sollte sich nicht immer damit abfinden, was das Leben einem so mitgibt. Man muss nicht wie eine Maschine leben und sein Schicksal einfach hinnehmen. Ein Anfang kann sein, öfter mal miteinander zu sprechen – auch wenn es manchmal nicht so ganz einfach ist auszusprechen, was man denkt. Am Ende stellt sich jedoch meistens heraus, dass Reden doch goldener ist als Schweigen, auch wenn man über seinen Schatten springen muss, um das zu sagen, was wirklich wichtig ist – so wichtig wie die Zeit füreinander und miteinander.

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