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Titelbild
Jaap Robben (Text) und Benjamin Leroy (Ill.):
Die Sauerdropse
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
München: mixtvision 2013
80 ungez. Bll
€ 14,90
Illustriertes Kinderbuch ab 10 Jahren

Robben, Jaap: Die Sauerdropse

Herrlich mies drauf

Lavinia Runte (2013)


Jaap Robben und der Illustrator Benjamin Leroy erzählen in ihrem ungewöhnlichen Kinderbuch „Die Sauerdropse“ die skurrile Familiengeschichte von zwei sehr miesepetrigen Brüdern.

Harry und Hubert, zwei alte und übellaunige Kerle, leben in der ansonsten sehr bunten Selleriestraße in einem kleinen, grauen Haus, das mit der Zeit immer enger wird. Das liegt daran, dass die zwei jeden Monat neu tapezieren. „Harry und Hubert sind nämlich solche Sauerdropse, dass davon sogar die Blümchentapete verwelkt.“ Auch ansonsten ist bei den beiden nichts ‚normal‘. Am liebsten essen sie saure Heringe, Hühnersuppe und trinken dazu ein Glas Brennnesseltee mit einem Spritzer Salzgurkensaft. Das kleine Rasenstück im Garten wird dreimal die Woche gestutzt, der Gehweg täglich gesaugt und jeden Donnerstag wird gestritten. Damit ist die Routine von Harry und Hubert aber noch nicht auf ihrem Höhepunkt angekommen: Werktags Punkt Viertel vor fünf wird die Beschwerdestelle im Rathaus angerufen. Dort reagiert aber schon lange niemand mehr auf den Sauerdropsschen Telefonterror. Und so geht alles seinen Gang im Leben der schrulligen Brüder. Jede Unterbrechung der grauen Routine ist unerwünscht, Besuch sowieso. Denn der würde Mutter wecken, und das darf auf keinen Fall geschehen.

Doch dann unterbricht eine fröhliche, bunte Karte das eintönige Leben der Sauerdropse. Verzweifelt hoffen die Brüder, dass die Karte vom Wind davon getragen werde. Doch es kommt noch schlimmer: Am Beschwerdetelefon hebt plötzlich Gertie, die neue Mitarbeiterin des Rathauses, ab. Was für ein Schock für die beiden. Gertie findet auch die Karte und bringt sie den Sauerdropsen persönlich vorbei. Langsam aber sicher drängelt sich Gertie, die aussieht wie Mutter, nur sehr viel freundlicher, in das Leben von Harry und Hubert. Schließlich geben sie auch ihrem Drängen nach und öffnen die Post. Und dann überschlagen sich die Ereignisse:

Vetter Nico gratuliert Mutter Sauerdrops zum 111. Geburtstag und steht auch prompt vor der Tür. Gemeinsam mit Gertie, Vetter Nico und den Nachbarn, die sich aus Versehen bei Bauarbeiten in das Wohnzimmer der Brüder gesprengt haben, beginnt eine Geburtstagsparty, die ihresgleichen sucht. ‚Mutter‘ leidet plötzlich an der ‚vierbeinigen Krankheit‘, das (Selbst-)Täuschungsmanöver der Brüder fliegt auf, und der Hund der Nachbarn findet ein Skelett im Garten …

Jaap Robben und Benjamin Leroy erzählen in ihrem Kinderbuch eine abgründige, mitunter sehr morbide Familiengeschichte mit psychologischem Tiefgang. Die Brüder mögen keine anderen Menschen, und nichts hassen sie mehr als eine Abweichung von der Routine. Die Anwesenheit der Mutter, obwohl sie angeblich immer schläft, wirkt sehr bedrückend. Allgegenwärtig scheint sie das Leben von Harry und Hubert zu bestimmen.

Aber es gibt noch mehr zu entdecken. In der Mitte des Buches verrät der auktoriale Erzähler dem Leser ein unglaubliches Familiengeheimnis (das nur Mutter kennt), welches an Absurdität kaum zu überbieten ist. Der Leser wird geradezu in das Buch gezogen: „Sie kennt das Geheimnis. Und du. Wenn du dich traust. Du musst es aber für dich behalten!“ Der Leser blättert durch ein in Sepia gehaltenes Familienalbum und erfährt, wie es in der Familie Sauerdrops zuging, als Vater Arnold noch lebte. Schmal und ständig übermüdet von der harten Arbeit, kümmerte er sich trotzdem aufopfernd um seine Kinder, während Mutter schon damals immer lieber schlief. Das Ende von Vater Arnold ist so verrückt, dass man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte.

Die schräge Familiengeschichte besticht nicht allein durch den trockenen Humor des Textes. Die Illustrationen von Benjamin Leroy, in einem Mix aus Zeichnung, Aquarellfarben und Collagetechnik, lassen das Skurrile erst so richtig hervortreten. Die beiden Brüder sehen herrlich unsympathisch aus. Die kantigen, unruhigen Zeichnungen lassen sie noch grantiger wirken, als es ihre ewig hängenden Mundwinkel schon vermuten lassen. Dazu kommen ihre riesigen Köpfe auf viel zu dürren Körpern (wohl eine Folge der Mangelernährung aus Heringen, Brennnesseltee und Hühnersuppe). Trotzdem will man den beiden nichts Böses, auch wenn sie so mürrisch sind und aussehen.

Wenn Harry und Hubert träumen, erzählen seitenweise nur die Bilder. Wie auf einer Filmrolle sieht der Leser die Brüder durch ein schwarz-grau-gelbes (Alb-)Traumland voll mit Äpfeln fliegen, die ihr Vater immer so gerne mit ihnen gegessen hat. Vater Arnold erwartet sie dort im Traum, wird aber leider von einer riesigen Maschine, welche die grimmigen Gesichtszüge von Mutter trägt, platt gewalzt – ein sehr subtiler Hinweis darauf, wie Vater Arnold tatsächlich aus dem Leben geschieden ist. In diesem Rückblick lernt der Leser auch endlich Mutter kennen: eine herzlose, ständig schimpfende Frau, die sich lieber auf dem Sofa lümmelte und Klatsch-Magazine las, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern. Woher Harry und Hubert ihre vielen Macken haben, wundert dann niemanden mehr. Die Text-Bild-Komposition ist sehr abwechslungsreich gestaltet. Beide Elemente erzählen die Geschichte vollkommen gleichwertig, manchmal alleine, dann wieder harmonisch ineinander gefügt. Wenn das Geheimnis um Mutter gelüftet wird, steht Gertie winzig klein im Zentrum einer weißen Seite. Ihre Frage steht auf der anderen, ebenfalls weiß gehaltenen Seite. Diese Komposition wiederholt sich auf der nächsten Seite, wenn Harry und Hubert zugeben müssen, dass Mutter für immer schläft.

Die Farbgebung unterstützt die Entwicklung der Geschichte zudem sehr passend. Zunächst ist alles grau-schwarz. Nur ein kräftiges Zitronengelb durchbricht die Eintönigkeit. Doch je mehr die dralle Gertie im Leben der motzigen Sauerdropse mitmischt, desto mehr Farbe kommt hinzu, vor allem in Form pastelliger Rosatöne. Harry und Hubert wirken vor dieser Farbkulisse vollkommen verloren. „Die Sauerdropse“ bricht mit den klassischen Konventionen eines Kinderbuches, nicht nur weil es auf das vermutete Happy End verzichtet. Geschickt wird mit den Erwartungen des Lesers gespielt, denn als die gutmütige, wenn auch sehr aufdringliche Gertie das Leben der Sauerdropse aufwirbelt, erwartet man: Jetzt wird alles gut mit Harry und Hubert.

Robben und Leroy erzählen mit einem zwinkernden Auge und einer großen Portion schwarzen Humors über Familie, Tod und die Angst vorm Loslassen. Ob Kinder die tiefenpsychologische Bedeutung einer alles dominierenden Mutter auch nur annähernd begreifen, sei dahingestellt. Allerdings werden „Die Sauerdropse“ so herrlich komisch erzählt und bebildert, dass auch jüngere Leser ihre Freude an der Geschichte haben werden. Und am Ende kann man von Harry und Hubert, den zwei kauzigen Außenseitern, auch noch etwas lernen. Man muss sich nicht anpassen um glücklich zu sein. Denn was ist schon normal …?!

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