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Matthew Dicks:
Der beste Freund, den man sich denken kann
Aus dem Amerikanischen von Cornelia C. Walter
Berlin: Bloomsbury 2013
442 Seiten
€ 19,99
Kindle Edition: € 15,99
Kinderbuch 10 Jahren.


Dicks, Matthes: Der beste Freund, den man sich denken kann

Ein imaginärer Freund

von Nelli Wolf (2013)
 
„Glaubst du, dass ich real bin?“ Diese Frage stellt Budo seinem Freund Max Delaney immer wieder. Nicht, weil er Zweifel an sich selbst hat. Oder weil er erkannt hat, dass außer Max niemand ihn sehen oder hören kann. Budo weiß, dass er nur existiert, weil Max ihn sich ausgedacht hat. Deshalb fragt er ihn auch immer wieder danach. Solange Max an ihn glaubt, wird er weiter existieren. Budo ist ein „imaginärer Freund“. Er ist überhaupt der einzige Freund, den Max hat.

Max ist anders als andere Kinder. Er ist am liebsten allein. Er würde lieber unter irgendeinem Missstand leiden, als jemanden darauf aufmerksam zu machen. Menschen verwirren ihn, wenn sie sarkastisch sind oder herumblödeln, er versteht sie nicht. Deshalb ist es so anstrengend für ihn, sie um sich zu haben. Je weiter sich jemand körperlich von ihm fernhält, desto lieber mag er den Menschen. „Max lebt auf der Innenseite, und die anderen Kinder leben auf der Außenseite“, meint Budo. Offenbar leidet Max am Asperger-Syndrom. Sein Vater hält ihn einfach für einen „Spätzünder“ und denkt, dass sich Maxens Probleme mit der Zeit von alleine lösen werden. Seine Mutter dagegen ist ernsthaft besorgt und will Max zu einer Therapeutin schicken. Das löst wieder und wieder Streit zwischen den Eltern aus, und Max fühlt sich dann immer furchtbar schuldig. Das sagt er ihnen aber nicht. Nur mit Budo kann er über solche Dinge sprechen.

Als Max sich Budo ausgedacht hat, war er vier Jahre alt. Er stellte ihn sich einfach vor – und Budo begann zu existieren. Sein ‚Leben‘ beginnt Budo zwar mit dem gleichen Wissen wie Max, aber er hat die Dinge viel besser im Griff. Vielleicht liegt es daran, dass Max ihn sich älter vorstellt, als er selbst ist. Auch wenn Budo, was die Menschen anlangt, ausschließlich mit Max kommunizieren kann, ist er deshalb nicht völlig von ihm abhängig. Er denkt und bewegt sich in dem Rahmen, den Max sich für ihn ausgedacht hat. Max hat sich beispielsweise genau vorgestellt, welchen Mund, welche Augen, Nase, Arme, Beine Budo hat – einfach wie sein gesamtes Aussehen beschaffen ist, sodass Budo einem Menschen ziemlich ähnlich sieht. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wie Budo mit der Zeit feststellen muss, als er die imaginären Freunde anderer Kinder kennenlernt. Da diese Kinder nicht so phantasievoll sind wie Max, fehlen vielen anderen imaginären Freunden ,Körperteile‘, sodass man meinen könnte, sie seien einem Zeichentrickfilm entsprungen. Auch wenn Budo mit diesen imaginären Freunden sprechen kann, ist er vor allem doch an der Menschenwelt sehr interessiert, und da Max sich nicht vorgestellt hat, dass er schlafen müsse, nutzt Budo die Zeit, in der Max schläft, um mit dessen Eltern fernzusehen, deren Gespräche über Max mit anzuhören oder die Stadt zu erkunden. Max hat sich nämlich vorgestellt, dass Budo durch Türen und Fenster gehen kann. So kann er hingehen, wohin er will, und lernt viele Dinge kennen, über die Max nicht Bescheid weiß. Aber solange Max wach ist, weicht Budo ihm meistens nicht von der Seite. Max käme ohne seinen Freund in vielen Situationen sonst nicht gut zurecht, beispielsweise, wenn er sich zwischen zwei Dingen entscheiden muss, denn da ist er sehr schnell überfordert.

Aber eines Tages entdeckt Budo, dass Max etwas vor ihm geheim hält. Er entdeckt, dass die Lehrerin Mrs Patterson nicht wie vorgesehen den Förderunterricht durchführt. Doch Max will ihm nicht verraten, wo er mit der Lehrerin hingeht und was sie tun. Augenscheinlich ist er begeistert davon, will aber nicht, dass Budo beim nächsten Mal mitkommt. Budo hat kein gutes Gefühl und folgt ihm heimlich. Was er sieht ist erstaunlich genug. Keine Frage: Max ist in größter Gefahr! Doch wie soll Budo Hilfe holen, wenn kein Mensch ihn sehen und hören kann?

Mit viel Enthusiasmus und Wärme beschreibt der als Grundschullehrer tätige Matthew Dicks in seinem Kinderroman „Memoirs of an Imaginary Friend” (Originaltitel) die enge Freundschaftsbeziehung zwischen Budo und Max, die durch Maxens Entführung auf eine harte Probe gestellt wird. Budo steht nun zwischen der Entscheidung, seine eigene Existenz zu schützen oder Max zu retten. Mit Hilfe seiner anderen imaginären Freunde startet Budo eine großangelegte Rettungs- und Befreiungsaktion, die von einem Spannungshöhepunkt zum nächsten eilt: Ist eine mögliche Lösung in Sicht, tauchen neue Probleme auf, die Maxens Rettung als schier unmöglich erscheinen lassen. Über viele Nebenwege und einige konstruiert wirkende Hindernisse wird dieser Spannungsbogen geführt und der Leser in Atem gehalten. Dabei fügen sich nach und nach die vielen kleinen Informationen, die der Autor fortwährend einstreut, wie Puzzleteile zusammen. Sie zeigen das Bild eines echten Freundes, der auf Gedeih und Verderb für seinen Freund einsteht, selbst wenn er dabei verlieren sollte. Dass nach einem effektvoll herbeigeführten Showdown der gerettete Max auf einmal lächelt und Küsschen verteilt, will dann aber nicht so recht zur zuvor entworfenen, durchaus glaubwürdigen Charakterzeichnung eines autistischen Jungen passen.

Man ist gerne bereit, solche Schwächen zu überlesen, denn die Geschichte, die anfangs etwas dahindümpelt – dem Leser müssen viele Detailinformationen vermittelt werden, die für das Verständnis der nachfolgenden Handlung notwendig sind –, nimmt mit der Entführung richtig Fahrt auf, und für die Freundschaftsgeschichte der beiden Jungen entwickelt man sehr schnell Sympathie. Auch besitzt Budo als origineller Erzähler ganz unbestritten Charme und nimmt jeden für sich ein. Problematisch an Dicks‘ Roman ist, dass sich der Erzählmittelpunkt unvermittelt immer mehr weg von Max, dessen Geschichte ja eigentlich erzählt werden soll, verlagert und stattdessen auf Budo fokussiert wird. So etwa wird – und das beansprucht viele Seiten – fast ein ganzer Kosmos „imaginärer Freunde“ Budos eingeführt, die zwar das unterschiedliche Leid vieler Kinder spiegeln, für den Plot aber eigentlich unerheblich sind. Befremdlich im Kontext eines Kinderromans ist sicherlich die distanzlose Schilderung mancher – für den Geschehensverlauf überhaupt nicht notwendiger – Grausamkeit; auch die (psychologische) Motivierung von Maxens Entführung dürfte für Kinder kaum nachvollziehbar sein. Dass gleichwohl sehr häufig – wenigstens in der deutschen Fassung (Übersetzung: Cornelia C. Walter) – mit Kleinkindersprache operiert wird, strapaziert die Geduld zumindest des erwachsenen Lesers.

Insgesamt jedoch ist dieser Kinderroman für Leserinnen und Leser ab etwa zehn Jahren sehr ansprechend. Denn Freundschaft, wie sie hier beschrieben wird, ist genau das, was sich jeder wünscht – auch wenn man selbst mal zurückstehen muss, um ein Freund zu sein.

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