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  • Titelbild Großansicht:
    Moebius/Marchand, Bruno:
    Die Träume des Little Nemo
    Band 1: Die Entführung des Königs
    Aus dem Französischen von Uta Schmid-Burgk.
    Hamburg: Carlsen 1994.
    (Carlsen Comics)
    72 S.
  • Titelbild Großansicht:
    Moebius/Marchand, Bruno:
    Die Träume des Little Nemo
    Band 2: Im Land der bösen Träume
    Aus dem Französischen von Harald Sachse.
    Hamburg: Carlsen 1995.
    (Carlsen Comics)
    72 S.

Sammelrezension „Little Nemo“
Moebius/Marchand, Bruno (Text und Illustration): Die Träume des Little Nemo 1 & 2

Der kleine Nemo im Schlummerland

von Wiebke John (1997)

Bereits 1905 träumte sich Windsor McCays „Little Nemo“ in die Herzen der „New York Herald“-Leser und war aus der Sonntagsausgabe 10 Jahre lang nicht wegzudenken. Mit Schwindel erregenden Perspektiven, bahnbrechenden Layouts und surreal wirkenden Jugendstilzeichnungen brachte McCay seinen kleinen Träumer, der am Ende jeden Strips erwachend aus dem Bett fiel, ganz nach oben in das neue Medium Comic.

80 Jahre später greift der heutige Meister des Genres, Moebius, der sich in seinen Arbeiten oft mit dem Thema Traum auseinander setzt, die Figur des Little Nemo wieder auf. Gemeinsam mit dem jungen Zeichner Bruno Marchand erfindet er Nemo in zwei Bänden neu.

Ganz der philosophischen Frage folgend, ob nicht der Traum Realität oder vielmehr die Realität Traum sei, lassen die Autoren den jungen Nemo, der „seinen Kopf immer in den Wolken“ hat und sich von seiner Umwelt nicht verstanden fühlt, in bizarren Fantasielandschaften agieren. In eindrucksvollen Bildern wird erzählt, wie Nemo von zu Hause ausreißt und von einem seltsamen Fluggerät in sein eigenes Traumland entführt wird. „Slumberland“ gleicht mal einer skurrilen Eiswüste, dann einem tropischen Regenwald mit „Pilzbäumen“. Hier soll Nemo zum Prinzen gekrönt werden, doch alles kommt ganz anders. Slumberland ist nicht mehr das, was es einmal war: Das „Meer der Spiegel“ ist nun sturmgepeitscht, die „Wolkeninsel hat ihre Wolken verloren“. Das Böse wirft seine Schatten auf das Traumland. Verkörpert durch den „Meister des Alptraums“ dringt es in Form einer riesigen, gezackten Schlange in Slumberland ein und entführt den König.

Klar, dass nur ein Held wie Nemo, der „beste aller Träumer“, Slumberland retten kann. Doch noch zweifelt Nemo an seinen Fähigkeiten und flieht am Ende des ersten Bandes aus dem Traumland, indem er erwacht. Im zweiten Band machen sich Nemo und seine neuen Freunde dann doch auf den Weg in das „Land der bösen Träume“, um – in teuflisch roten Farben und höllischen Szenerien – dem Bösen den Garaus zu machen.

Nemos Hang zum Träumen, der ihn im Alltag zum Außenseiter macht, lässt ihn letztlich zum Helden werden. So wie im wirklichen Leben Traum und Realität verschwimmen können, gehen diese beiden Welten auch im Comic nahtlos ineinander über. Der Traum wird zu einer anderen Wirklichkeit, die genauso realistisch wie der Alltag ist. Alltag und Traum beeinflussen sich gegenseitig. In einem Traum im Traum kann Nemo seinem Vater, der sich verirrt hat, den Weg weisen. Seine Traumerfahrung mit Nemo überzeugt den Vater, dass die Träume seines Sohnes nicht nur „Hirngespinste“ sind. Er erkennt, dass „die Phantasie und Träume Teil des Lebens sind“ und ihren Vorteil haben können.

In der üblichen Darstellungsweise im Comic dienen die Personen mit ihrer stereotypen Mimik und Gestik dem einzigen Zweck, die Handlung zu verbildlichen. Sie stehen zentriert und frei im Bild. Jede künstlerische Abstraktion wird vermieden, um die Aussage eindeutig zu machen. Das Repertoire der Autoren von „Little Nemo“ geht weiter: Zugunsten einer ästhetischen Komposition verschwinden die Figuren mitunter in der Landschaft: Sie werden ein Teil von ihr. Manchmal muss man sie regelrecht suchen. Dadurch entfalten die Elemente der Zeichnung eine sinnliche Wirkung.

Diese wird verstärkt durch die sorgfältige Farbauswahl der Künstler. Üblicherweise wird in diesem Medium auf kostenintensive Druckverfahren, die auch feinste Farbabstufungen zulassen, verzichtet. Der Illustrator muss sich auf wenige flächig aufgetragene Farben beschränken. Im künstlerischen Comic, wie diesem, hat er völlig freie Hand. Selbst die Sprechblasen sind von der Kolorierung nicht ausgeschlossen. Text und Bild ergeben eine Einheit. In „Little Nemo“ kommentiert der Text nicht nur das Bild, sondern führt handgeschrieben unter, über ihm und mittendrin sein Eigenleben.

Moebius und Marchand legen mit „Little Nemo“ eine Arbeit vor, die durch ihren Anspruch vor allem für Jugendliche und Erwachsene interessant ist. Durch ihr handwerkliches Können und ihre Fantasie gelingt es den Autoren, dazu anzuregen weiterzuträumen, ohne die Realität dabei zu vergessen.