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Nataly Savina

Nataly Elisabeth Savina wurde 1978 in Riga geboren. Im Alter von zehn Jahren zog sie mit ihrer Mutter nach Helsinki und später nach Freiburg, wo sie auch ihr Abitur machte. Nach einem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Hildesheim besuchte sie die Film- und Fernsehakademie in Berlin. Heute arbeitet Frau Savina als freie Autorin, Lektorin und Dramaturgin.

Für ihr zweites Jugendbuch „Love Alice“ wurde sie mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichnet.

1. Sie haben für Ihr Jugendbuch den Peter-Härtling-Preis gewonnen. – Herzlichen Glückwunsch! Wie fühlt es sich an, mit einem so renommierten Preis ausgezeichnet zu werden?

Toll, natürlich! Ich habe mich total gefreut. Ich habe am Wochenende einen Anruf von Tilman Spreckelsen bekommen. Das ist einer der Juroren und er meinte, ich wüsste ja, worum es geht – um den Peter-Härtling-Preis. Ich dachte: „Ja klar, ich weiß, ich bin wieder nicht dabei“. Und dann war ich, obwohl er mich ja persönlich angerufen hatte, trotzdem richtig überrascht, als er meinte: „Doch, doch. Sie haben gewonnen.“ Ich habe sogar geweint vor Freude. Es ist total schön, weil man ja doch sehr lange alleine an so einem Buch sitzt und überhaupt keine Ahnung hat, ob es überhaupt verlegt wird. Wenn man dann ausgezeichnet wird, ist man sehr dankbar, dass auch anderen Leuten aufgefallen ist, dass man sich so viel Mühe gegeben hat. Also: Es ist total schön.

2. Wie entstehen die Themen für Ihre Projekte? Wie sind Sie auf das Thema von Love Alice gekommen?

Zum einen ist es natürlich ganz stark biographisch inspiriert, es ist eine Art Denkmal oder auch so etwas wie ein Abschiedsbrief für eine Freundin.

Ich begann damit, als ich auf der Filmakademie war. Wir sollten einen Kurzfilm schreiben und uns dazu einen intensiven emotionalen Moment überlegen, der irgendwann passiert ist. Es sollte ein spontaner Einfall sein, und mir fiel ein, wie meine Freundin einmal einen Kürbis zertreten hat und ich darüber total entrüstet war. Das habe ich dann aufgeschrieben, aber es ergab keinen Kurzfilm. Die Geschichte hatte nämlich vorerst keine Pointe und die ist bei einem Kurzfilm sinnvoll. Damals meinte der Dozent, irgendwie sei da was drin, ich solle doch versuchen, noch mehr solcher Momente zu finden. Es ging dann ganz schnell, dass ich sehr viel gesammelt hatte. Das war der Anstoß, die Geschichte aufzuschreiben.

3. Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Figuren?

Es ist immer ein Mix aus Leuten, die ich wirklich kenne, und aus Momenten, die mir woanders aufgefallen sind. Das alles fügt sich dann zusammen, und es ergibt sich eine Figur, die zwar fiktiv ist, die aber trotzdem zu leben beginnt. Die Figur macht dann irgendwann auch Dinge, die niemand so in der Realität getan hat – die aber zu der Figur passen. Somit ist es immer ein Sammelsurium aus Elementen, die in meiner nächsten Nähe passiert sind, aus einer ‚entfernteren Nähe‘ und einem Teil, der ausgedacht ist.

4. Gedichten wird in Love Alice eine besonderer Stellenwert eingeräumt (in Form des Gedichtes ‚Ich kann dich noch sehen’ von Paul Celan und dann auch durch die spontanen Reime Cherrys). Wie kam es dazu? Welche Bedeutung hat Lyrik für Sie persönlich?

Lyrik hat für mich persönlich eine sehr große Bedeutung. Früher hatte ich auch immer bestimmte einzelne Stücke in meinem Arbeitszimmer an der Wand hängen, weil ich das Gefühl hatte, dass ein Gedicht eine geballte Energie hat und sie auch ausstrahlt. Das Gedicht in dem Buch habe ich auch ausgewählt, weil es das allererste Gedicht von Paul Celan ist, das ich jemals gelesen habe. Es war in der Vogue abgedruckt, als ich ein Teenager war. Meine Mutter hat mir daraufhin die gesammelten Werke zum Geburtstag geschenkt, und die haben immer noch eine große Bedeutung für mich. Das Gedicht speziell verbinde ich mit dem Teil der Geschichte, der ja wirklich passiert ist. Deshalb war es für mich ganz klar, dass es in das Buch rein muss. Ich bin sehr glücklich, dass es geklappt hat: Es ist ja nicht immer möglich, die Originalwerke ‚einzukaufen‘. Die anderen Stücke sind wie kleine Kinderlieder, da bin ich wegen der vielen Verweise auf Alice im Wunderland draufgekommen. Die sind eher als Reminiszenz zu betrachten.

5. Beim Lesen sind mir einige Anspielungen auf die Gattung Märchen aufgefallen. Mir scheint, Sie spielen in Ihrer Erzählung mit diesen Bezügen, um dann zum Schluß (ganz entgegen dem Motto: „Und dann lebten sie in Frieden noch viele Jahre“) mit der ‚Märchenlogik’ komplett zu brechen. Welche Bedeutung haben diese Märchenbezüge für Sie?

Da habe ich, ehrlich gesagt, beim Schreiben gar nicht so viel darüber nachgedacht. Das Buch ist voll von kleinen Verweisen auf andere Texte. Märchen gehören ganz klar dazu. Eine Kapitelüberschrift lautet „Das Versprechen“ – das ist ein bekannter Roman von Dürrenmatt, der sehr düster ist. Und ich glaube, wenn man in dieser mädchenhaften Teenagerwelt umherwandert, fallen einem ganz einfach Märchen ein, mit den ganzen Prinzessinnen und dem üblichen Drumherum. Märchen haben ja viel mit der Zeit vor dem Erwachsenwerden zu tun. Doch es ändert nichts daran, dass es auch die Realität gibt: Die meisten Märchen sind ja auch als Warnungen vor der Realität zu verstehen. Insofern passt das ja auch ganz gut zu dem Buch. Aber ich habe mich nicht hingesetzt und das vorher so konstruiert.

6. In der Erzählung brütet Alice ein Ei aus. Kann dieser Vorgang als symbolische Ebene für Alices sich entwickelnde Fähigkeit Bindung aufzubauen verstanden werden?

Ja, das kann auf jeden Fall so verstanden werden. Aber wenn sie mit Puppen gespielt hätte oder eine Familie gespielt hätte, hätte man das wahrscheinlich auch so interpretieren können. Sicher bekommt es auch durch die Kombination mit anderen Szenen eine symbolische Ebene. Es ist einfach etwas, das sie spielt – auch ganz ernsthaft spielt. Ich denke, die Szene zeigt, dass sie in der Lage ist, durch das eigene Spielen ein Plüschtier ‚lebendig’ zu machen. Und ich glaube, das Spielen ist insgesamt für die Teenagerzeit wichtig. Man vergisst schnell, dass es wirklich ein Übergang ist zwischen Kindheit und Erwachsensein. Und man vergisst auch, dass in Jugendlichen noch viel Kindliches ist – mehr, als viele Erwachsene noch geneigt sind zu sehen.

7. Mir hat besonders das Dazwischen gefallen, mit dem Sie die Beziehung von Alice und Cherry beschreiben: Sie werden beste Freundinnen, fühlen sich aber auch zueinander hingezogen und machen zusammen erste zärtlich-sexuelle Erfahrungen. Sehen Sie die beiden in erster Linie als Freundinnen oder als Liebespaar?

Ich sehe die beiden auf jeden Fall als Freundinnen. Die sexuellen Annäherungen, die in dem Buch beschrieben werden, sollen überhaupt nicht heißen, dass die beiden lesbisch sind. Aber ich glaube auch, dass beste Freundinnen sich selbst als Liebespaar begreifen können, selbst wenn sie es nicht so aussprechen würden. Man merkt das ja, wenn manchmal die erste Liebe zu einem Jungen ins Spiel kommt und Beziehungen von Freundinnen dadurch zugrunde gehen. Ich glaube, das ist auch so ein Teil vom Teenagerdasein, dass man da noch keine so klaren Grenzen zieht. Es gibt auch viele Jungs, die ähnliche Erfahrungen machen – das betrifft nicht nur Mädchen.

8. Sie sind neben Ihrer Tätigkeit als freie Autorin auch Drehbuchautorin. Können Sie sich eine Verfilmung von Love Alice vorstellen?

Ja, ich hoffe sehr, dass das klappt. Wie bei allen meinen Büchern habe ich angefangen, die Geschichte zuerst als Drehbuch zu schreiben, und es gibt auch eine erste Drehbuchfassung. Es wäre natürlich toll, wenn das klappen könnte. Es gibt allerdings die Schwierigkeit, dass es Teenagerfilme in Deutschland sehr schwer haben. Jugendliche sind keine werberelevante Zielgruppe. Die Finanzierung ist schwierig, und das Thema ist ja auch irgendwo an der Grenze zwischen ‚jugendlichen‘ und ‚erwachsenen‘ Filmen – das ist, glaube ich, gar nicht so einfach. Wenn, dann wäre es auf jeden Fall ein Arthaus-Projekt und die sind ja bekanntlich auch schwer zu finanzieren.

9. Welche Kinder- und Jugendliteratur hat sie als Heranwachsende besonders geprägt?

Als Heranwachsende hat mich ein Buch sehr geprägt, von dem ich gar nicht weiß, ob es das auf Deutsch gibt – und wenn nicht, dann würde ich es sehr gerne mal übersetzen. Es ist von einer russischen Schriftstellerin, Aleksandra Jakovlevna Bruštejn, und heißt „Der Weg geht in die Ferne“ (Doroga uchodit v dal‘, 1956). Es ist die Geschichte von einem Mädchen, das in Russland kurz vor der sowjetischen Revolution lebt und dort einen Künstler kennenlernt, der seine Arme verloren hat und mit den Füßen malt. Er malt ihr ein Bild, einen Weg durch den Wald, der immer in die Ferne führt. Seine Botschaft ist, man soll nach jedem Sturz wiederaufstehen und weitergehen, komme was wolle. Das ist ein ganz, ganz tolles Buch, das ich in meiner Teenagerzeit immer wieder gelesen habe. Ich habe grundsätzlich viel gelesen: Auch fast alles von Somerset Maugham. Nichts Modernes, dafür haben mich viele englische Klassiker durch meine Teenagerzeit begleitet. Prosper Mérimée mit Carmen war mir zum Beispiel auch ganz wichtig.

10. Ein gutes Jugendbuch muss ...

Ich glaube, dass es egal ist, ob es ein Jugendbuch ist oder ein anderes Buch. Für alle Bücher gelten die gleichen Kriterien. Ich lese selbst viele Jugendbücher und ich bin nun leider jetzt doch nicht mehr so jugendlich. Ich glaube, die Antwort ist: authentisch sein. Mir persönlich ist ein großer Spannungsbogen nicht so wichtig, sondern vielmehr, dass man das Gefühl hat, es wird eine Geschichte vermittelt, die dem Autor wichtig ist, und dass die Geschichte Emotionen generiert. Ich finde auch wichtig, dass ein Buch nicht über die Jugendlichen urteilt und nicht versucht, eine bestimmte Meinung oder Moral ‚aufzudrücken’.

 

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Lina Weber.